So 11. Jun 2017, 22:05
Leif wusste nicht worauf genau Ryanne anspielte, aber er war zu erschöpft und in Gedanken versunken um weiter nachzuforschen. Er nickte nur. „Lassen wir uns überraschen, was die Zukunft für uns bereit hält. Vielleicht kommt einmal ein Tag an dem wir uns gegen die Tremere erheben, aber heute ist dieser Tag noch nicht.“ Der Heiler strich sich über die mitgenommene Kleidung und schaute noch einmal in die Richtung in der er Leuchtenberg vermutete. „Wir sollten aufbrechen, Matthias.“ Er sah den großen Krieger beinahe ein wenig besorgt an. „Was heute Nacht geschehen ist wird die Ohren der Hexer bald erreichen und bis dahin sollten wir so weit weg sein wie möglich. Ich bin mir sicher, dass die Hexer Vergeltung fordern werden, auch wenn wir ihnen einen empfindlichen Schlag versetzt haben.“ Mit einigen wenigen, aber dennoch herzlichen Worten verabschiedete sich Leif schließlich von der kleinen Gruppe, die mit Trajan in Richtung des Heiligen Landes aufbrechen wollte. „Mögen die Götter mit euch sein. Ich weiß nicht ob wir uns in diesem Leben wiedersehen, aber ich bin dennoch froh solch mutige und unbeugsame Vertreter unserer Art erleben zu dürfen.“
Der Nordmann war schweigsam, aber irgendwann auf ihrer Reise sprach er Matthias mit nachdenklicher Stimme an. „Wohin wirst du jetzt gehen?“
Mattias zuckte, als wäre es ihm gleichgültig, mit den Schultern und schwieg, doch Leif konnte sich denken, dass der nachdenkliche Krieger sich wohl zu diesem Thema Gedanken gemacht haben musste.
Die weitere Reise verlief für die kleine Gruppe ausgesprochen beschwerlich. Außer Matthias und Leif waren die drei anderen merklich geschwächt und alle mehr als hungrig. Der Nordmann konnte in den Augen des einen Salubri einen solchen Hunger erkennen, dass er sich einen Moment fragte, wie er wohl die Raserei zurück zu drängen im Stande war, die in jeder Minute nach ihm greifen wollte. Es gelang ihnen schließlich in einem der Wälder etwas Wild zu erlegen, das zumindest den größten Hunger stillte um wieder in einer größeren Stadt einkehren zu können. In Ambach konnten sich Leif und Matthias als Heiler verdingen und so etwas Blut ergattern. Erst in diesen Momenten wurde ihnen so richtig bewusst, wie unsagbar schwierig es sein konnte ohne zu morden und zu viel Aufmerksamkeit zu erregen in einer unbekannten Umgebung genug Vita für eine kleine Gruppe Kainiten aufzutreiben. Durch die oftmals nur schwer passierbaren Wege, die sie wählten, gelang es ihnen unbemerkt voranzukommen und nirgendwo waren die Augen und Ohren eines Hexers zu erkennen. Schließlich erreichten sie erneut den kleinen Gasthof, an dem sie vor ihrem Weg nach Leuchtenberg Rast gemacht hatten und tatsächlich war vor allem der junge Locus, ehemals Diener des uralten Salubri Gabriel, hoch erfreut die Gesichter von Leif und Matthias wieder zu sehen. Nur mit Mühe und der Androhung der Wirtin, wenn er die Arbeit liegen ließe, gäbe es für ihn auch am Abend nichts zu essen, griff er wieder zur Mistgabel um den Stall fertig auszumisten.
Die Wirtsleute überließen den Gästen zwei Zimmer und schließlich, als die anderen ihr Zimmer bezogen hatten und Ryanne noch in der Wirtsstube verweilte, beantwortete Matthias Leifs Frage. „Du hast mich vor zwei Tagen gefragt, was ich nun zu tun gedenke.“ Er schwieg einige Sekunden bevor er hinzufügte. „Ich denke, es gibt hier in Europa noch genug für uns zu tun. Einige Salubri werden gefangen gehalten, andere verstecken sich allein in den tiefsten, feuchtesten Kellern um nicht gefunden zu werden, andere haben bereits die Hoffnung aufgegeben, dass überhaupt noch einer unseres Clans existiert. Ich denke, ich werde nach ihnen suchen…“ Er nickte, mehr zu sich selbst als zu Leif. „Außerdem werde ich versuchen, Ithur… Trajans Aufforderung nachzukommen. Es gibt einiges, das er mich lehrte und das ich bereit bin an andere weiter zu geben. Die größte Waffe, die die Tremere gegen uns in der Hand haben ist, dass sie in der Lage sind uns unsere Clanszugehörigkeit, unsere eigenen Geheimnisse und die anderer zu entlocken um uns gegenseitig zu verraten. Das ist es, was Einhörner wie Gabriel in den Wahnsinn treibt, Misstrauen untereinander säht. Trajan hat stets versucht jeden einzelnen Kainiten so zu stärken, dass niemand ihm diese Geheimnisse entlocken kann.“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause. „Ich werde seinem Beispiel folgen.“
Die Rückreise dauerte erheblich länger als Leif sich gewünscht hätte, aber der Zustand in dem sie sich alle befanden ließ kein anderes Tempo zu, ohne dass sie Gefahr liefen sich an ungünstiger Stelle zu verraten. Als sie die vertraute Einfachheit des alten Gasthofes schließlich am Horizont entdeckten fiel Leif ein Stein vom Herzen sie hatten einen Teil ihrer Reise geschafft. Der Heiler genoss die Ruhe in ihrem kleinen Zimmer, während er aufmerksam den Worten von Matthias lauschte. Wie zur Bestätigung nickte er immer wieder, bevor er seufzte. „Ich selbst kann nicht auf die Suche gehen. Es gibt Verpflichtungen, die ich eingegangen bin und die mich an Brügge binden.“ Die vertraute Umgebung des Ratsaals im Belfried mit dem großen runden Tisch tauchte kurz vor Leifs innerem Auge auf. „Aber ich kann unserer Sache vielleicht auf andere Art und Weise helfen. Schick jene, die du findest, durch Brügge. Ich kann den Verfolgten und Orientierungslosen zumindest für eine Weile helfen, sie lehren, was ich weiß und ihnen helfen einen Platz auf einem Schiff in Richtung neuer Häfen zu finden.“ Leif lehnte sich zurück. „Das alles wird nicht einfach, aber ich bin davon überzeugt, dass es nicht unmöglich ist ein paar mehr von uns zu retten. Es wird Zeit, dass wir langfristig denken und planen und nicht nur immer auf kurzfristige Gefahren reagieren oder uns verstecken. Ein solcher Kurs wird uns früher oder später endgültig das Genick brechen.“
Matthias nickte ernst. „Da habt ihr Recht. Das war vielleicht der Fehler, den wir all die Zeit begangen haben.“ Er stieß langsam die Luft aus. „Wir Salubri sind führerlos. Es gibt für uns kaum eine Möglichkeit uns abzustimmen, uns zu beraten, und zu überlegen welchen Weg man allein oder gemeinsam beschreiten kann. Kein Salubri würde es wagen andere über Zufluchten oder Gefahren zu informieren… Das ist das andere Problem… Weder ihr, Leif, noch ich, noch sonst jemand von uns, können ein Konzept entwerfen, das Bestand haben wird… Verdammt!“ Er ballte die Hand zur Faust, hatte sich aber dennoch genug unter Kontrolle um nicht weiter zu fluchen.
Misstrauen. Leif dachte kurz über die Worte nach die Matthias zuvor in Zusammenhang mit den Tremere gesprochen hatte. Er lächelte beinahe gequält und suchte nach den passenden Worten. „Du hast Recht und meine Gefühle all das betreffend gehen in die gleiche Richtung. Hör zu Matthias, Ich weiß nicht, was es wert ist, aber ich glaube dir inzwischen, dass du nur das Beste für unseren Clan im Sinn hast. Das Misstrauen welches wir einander entgegen bringen ist in der Tat eines der wirkungsvollsten Gifte der Hexer. Aber nach allem was in Leuchtenberg geschehen ist, glaube ich nicht mehr, dass du ein Agent der Hexer bist. Mit oder ohne Thaumturgie, wir hätten diese Nacht ohne deinen Einsatz und dein Wissen nicht überlebt und dafür danke ich dir.“
Matthias Brauen verzogen sich zu einem fragenden Strich. Er schien überrascht. Seine Stimme war ruhig als er antwortete. „Habt Dank für euer Vertrauen, Leif. Es hat sich für uns Salubri als existenzrettend erwiesen zu hinterfragen und zu zweifeln… Und unabhängig davon sind wir Kainiten. Wir haben lang genug gelebt um wie süß die tödlichsten Gifte schmecken mögen… um es mal in den Worten unserer Heilerlinie auszudrücken.“ Er schmunzelte und klopfte Leif dankbar auf die Schulter. Schließlich sah er zu der spärlichen, flackernden Kerzenflamme, die das Zimmer erhellte. „Ihr seid bewandert in der Kunst des Auspex, das habe ich bemerkt. Kennt ihr die Wege des Animawandelns?“
„Leider nicht Matthias. Ich habe meine Kräfte des Auspex nie über das Lesen und Senden von Gedanken hin entwickelt. Mein Erzeuger war bewandert in dieser Kraft und hat zum Teil Tage in seiner Animaform verbracht. Warum fragt ihr?“
Er sah ihn nachdenklich an. „Ich würde versuchen euch zu helfen, den Weg zum ersten Mal zu beschreiten. Ihr habt das Blut Trajans in euch und ich bin mir sicher, dass euch diese Tatsache dabei behilflich sein wird. Versteht mich nicht falsch, das eigentliche Erlernen des Animawandelns ist ein langwieriger Prozess, aber es gibt auch dort Pfade, die sich leichter beschreiten lassen.“ Auf dem hageren Gesicht des Kriegers erschien ein Lächeln.
„Ich mag Abkürzungen.“ Auch Leif lächelte. „Um ehrlich zu sein habe ich schon länger überlegt mich mit diesem Erbe meines Blutes zu befassen und hätte eine befreundete Toreador in Brügge gefragt mir bei den ersten Schritten zu helfen, aber wenn ihr mir irgendwie weiterhelfen könntet, würde ich nicht nein sagen.“ Der Salubri dachte kurz über die Möglichkeiten nach. Das Animawandeln war nicht ohne Gefahren, aber die Möglichkeiten mit Verbündeten wie Matthias über weite Distanzen in Kontakt bleiben zu können wogen die Nachteile mehr als auf.
Matthias nickte. „Seht zu der Kerzenflamme und durch sie hindurch. Beim eigentlichen Seelenwandern konzentrieren sich viele auf den Ort, den sie aufsuchen wollen. Den Ort zu dem wir reisen können, kennt ihr wahrscheinlich nicht. Also werde ich euch mental ein Bild davon schicken.“
Vor Leifs Innerem Auge erschien kurz eine belebte Straße, Menschen, mit dunklerer Haut, die Handel trieben, ein Pferd, das versuchte dem Schmied, der es beschlagen wollte, zu entkommen.
„Konzentriert euch auf diesen Punkt.“
Matthias schien zu wissen wovon er sprach und Leif beschloss einfach seinen Anweisungen zu folgen. „In Ordnung“ Das Bild half ihm den Ort zu visualisieren und schließlich schloss er die Augen und versuchte sich die Menschenmenge auf den Platz mit allen Farben und Formen vorzustellen.
Leif gelang der Übertritt in die Geisterwelt mit einer so jähen Geschwindigkeit, dass es ihn fast erschreckte. Er spürte sowohl das Blut von Saulot als auch Trajan in sich und konnte ahnen woher seine abrupten Fähigkeiten kamen. Leif hatte den Ort vor Augen, den er sich vorstellte und es erschien ihm als habe man den weiten Weg den es bis dahin zurückzulegen ging wie Garn aufgewickelt und damit die unsagbar weite Strecke zu einem kurzen Katzensprung verkürzt. Als er wieder Umrisse erkennen konnte befand er sich inmitten von Menschen auf einem Marktplatz. Keiner schien ihn zu bemerken. Obwohl er wusste, dass er nicht körperlich anwesend war, schritten die Passanten an ihm vorbei als umgingen sie ein sichtbares Hindernis ohne es zu bemerken. Matthias stand neben ihm und lächelte. „ich wusste, dass ihr den Weg finden würdet.“ Die Stimme war so eindeutig zu vernehmen als wäre er tatsächlich dort.
Die Geschwindigkeit mit der all das geschah war beinahe überwältigend und es dauerte einen kurzen Moment bis Leif sich wieder gesammelt hatte. „Das war...einzigartig.“ Ihm fielen keine besseren Worte ein um das gerade erlebte zu beschreiben. Er war hier und auch nicht. Welch besondere Kraft das Animawandeln doch war. „Matthias?“ Es war genauso eine Frage wie eine Versicherung das der andere Salubri wirklich hier war. „Es fühlt sich an als könnte ich die ganze Welt bereisen.“ Der Heiler schaute an sich herab.
Matthias nickte. „Das ist auch so… Aber es ist nicht möglich mit der Umgebung in Kontakt zu treten… Und es ist um so schwieriger, um so weiter und weniger vertraut einem die Orte sind, die man bereisen möchte.“ Er begann sich einen Weg durch die Menge zu suchen. „In seltenen Fällen spürt ein Sterblicher mit magischem Gespür unsere Anwesenheit… aber in der Regel bleibt man absolut unerkannt.“ Er hielt eine knappe halbe Minute später an einer etwas schmalen, eher unscheinbaren Tür, die er nach einem kurzen Zögern einfach durchschritt.
„Ich verstehe.“ Leif zweifelte zwar ob er die Feinheiten des Seelenwandels wirklich schon begriffen hatte, aber zumindest begann er Erfahrungen zu sammeln. Während er seinem Lehrer folgte, ließ er seine körperlose Hand durch eine Frau in braunen, wallenden Gewändern gleiten und schmunzelte kurz über diese Geste. Dann trat er durch den Torbogen, den zuvor Matthias durchschritten hatte.
Der deutsche Krieger durchschritt einen Gang und erklomm dann eine steile Treppe, die in das übernächste Geschoss führte. Er schien zu wissen, wo er sich befand. Leif konnte ein paar Dienerinnen erkennen, die sauber machten und einen Mann in der Gewandung eines Knechtes, der ein paar gerupfte Hühner durch die Flure in die Richtung der wunderbar nach Brot und Braten riechenden Küche trug. Schließlich standen sie auf einem Raum, der eine großartige Sicht auf die Stadt freigab.
An der Brüstung lehnte eine Gestalt, die ihnen den Rücken zugewandt hatte, und an der Klarheit der Konturen konnte Leif schließen, dass der Mann sich ebenfalls in der Geisterwelt aufhielt. Matthias senkte den Kopf und fiel in eine Verbeugung. „Meister Ithuriel…“
Verwirrung überkam Leif und als er die Gestalt des alten Salubri sah schreckte er kurz zurück. Was geschah hier? „Trajan?“ Leif verbeugte sich ebenfalls leicht und schaute über die Brüstung des alten Balkons. „Was geschieht und wo sind wir eigentlich? Ist das real? Oder befinde ich mich in einem Traum?“ Der Heiler kannte die Welten der Träume und Illusionen, Reiche in denen sich sein Erzeuger so frei bewegt hat wie ein Fisch im Wasser. In solchen Welten war es auch möglich den Toten zu begegnen, auch wenn sie oft nur ein Echo ihrer echten Existenz waren.
Noch während sich Leif verbeugte, zog ihn die feste Hand des alten Salubri bereits wieder nach oben. „Solche Förmlichkeiten sind wahrlich nicht nötig.“ Er spürte den bestimmten Griff der Arme des Kainiten, der den Kriegergruß vollführte, der wohl vor Jahrhunderten Usus zwischen Kampfgefährten gewesen war. „Es freut mich euch bei Gesundheit anzutreffen… Ihr habt den Weg hierher gefunden… Demnach war eure Mission erfolgreich.“ Er nickte langsam und anerkennend und sah Matthias, dann Leif fest an. Es war klar, dass er gedachte das Wort zunächst an Heiler aus Brügge zu wenden.
„Erfolg mag an vielerlei Faktoren gemessen werden, nach all den Verlusten würde ich die letzten Nächte zwar nicht als Erfolg betiteln, aber auch nicht als komplette Katastrophe.“ Leif lächelte schwach und hätte Trajans Händedruck gerne wirklich gespürt. Die Situation war trotz allem andersartig und verwirrend. Leif brauchte seine gesamte Konzentration und Willensstärke um sich nicht in der Situation und Szenerie zu verlieren, bis er es irgendwann schaffte seine Fragen zu formulieren. „Wo sind wir hier? Außerdem was noch viel wichtiger ist, wie ist es möglich dass ihr hier seid, Trajan? Ich dachte ihr seid im Feuer eures Opfers und dem der Tremere vergangen?“