Do 21. Jan 2016, 22:34
Anja sah mittlerweile bedeutend besser aus und hatte sich wieder ein wenig gefasst. Dies war nicht zuletzt dem wärmenden Feuer und der heißen Gewürzmischung zu verdanken, welche die gute Berta noch eilig zubereitet hatte. Wenn sie Glück hatte, würde sie nicht einmal eine Verkühlung davon tragen. Die frisch aufgelegten Holzscheite knackten, als die junge Russin die irdene Tasse mit beiden Händen fest umschlossen hielt und Alida beinahe erschrocken fixierte. Was immer sie ihr noch zuvor so eilig mitteilen wollte, gerade schien es so als würde ihr dies einige Mühen bereiten. Sie biss sich auf die Lippen und nickte dann knapp. Alida war des Russischen halbwegs mächtig auch wenn ihr Dialekt bisweilen noch recht stark sein mochte und viele Begriffe ihr nichts sagten, verstand sie doch genug um einer einfachen, langsamen Konversation folgen zu können. Es ergab sich gut, dass Anja ihre Worte nunmehr um einiges langsamer an sie richtete.
„Es ist… etwas Schreckliches passiert, ich weiß es Herrin.“ Sie seufzte kurz. „Es war vor ungefähr drei Tagen, da erhielt unser Herr Belinkov hohen Besuch. Einer der Bojaren, ein hoher Adeliger und wichtiger Mann. Herr Belinkov schickte uns zu unseren Arbeiten, nicht einmal Meister Girland durfte bei dem Gespräch anwesend sein.“ Anja nahm einen weiteren Schluck aus dem dampfenden Becher. „Worüber sie sprachen, weiß ich nicht aber nachdem der hohe Herr wieder gegangen war, wies Belinkov uns an, uns für die Dauer seiner Reise, die er bald antreten würde, auf Meister Girland zu hören. Niemand sollte wissen, dass er weg ist und es sollte auch niemand das Anwesen verlassen – so lautete der Befehl.“ Ihre Augen weiteten sich.
„Ich… ich habe mich den Befehlen widersetzt… habe mich nachts aus den Gemächern geschlichen und vom Fenster aus beobachtet, wie Herr Belinkov das Pferd sattelte. Girland half ihm dabei. Sie wechselten einige Worte und er ritt davon… allein. Wohin kann ich wie gesagt nicht sagen aber… er trug Schwert und Schild bei sich und der Packesel an seiner Seite, war gewiss mit anderen Dingen ausgestattet die….“. Anja schluckte. „Ich weiß das euch Herr Belinkov viel bedeutet Alida van de Burse und auch wenn wir das Anwesen nicht verlassen sollten, habe ich mich davongestohlen um euch dies zu berichten: Wo immer Herr Belinkov hin unterwegs ist, ich habe Angst, dass er nicht wieder zurückkehren wird.“ Sie ergriff Alidas Hände.
„Ich stahl ein Pferd und machte mich auf den Weg nach Brügge. Unterwegs wurde ich überfallen und verlor mein Reittier; musste mich auf den Pferdewägen und Handelstrossen verstecken, um endlich bei euch anzukommen. Ich weiß, die Strafe für mein Ungehorsam wird hoch sein aber ich habe Angst um den Herrn und ich weiß, das ihr ihn lieb habt.. ich sehe es an euren Augen, wenn ihr mit ihm sprecht und uns Gesellschaft leistet. Und wenn nicht einmal Girland etwas tut dann…. Dann…“ Die Russin unterdrückte die ersten aufkeimenden Tränen.
Alida hörte dem Mädchen aufmerksam zu und spürte die Anspannung in ihrem Inneren. Sie versuchte das Gefühl von Furcht herunterzuschlucken. Sie hatte Anja schon damals in Genua gemocht, aber das Mädchen war Teil von Belinkovs Wiedergängerfamilie, die rauen Sitten des Ostens gewohnt und die blonde Händlerin wusste, welche Rolle sie zu spielen hatte.
„Anja, deine Sorge ehrt dich und dein Mut zeichnet dich aus. Nichtsdestotrotz hast du einen direkten Befehl deines Herrn missachtet. Belinkov weiß, was er tut und trifft seine Entscheidungen nach reichlichem Nachdenken und langer Überlegung. Du hättest nicht vorschnell handeln sollen.“ Sie hielt einen Moment inne, sah in Richtung des Feuers um dem Blick der braunhaarigen Frau auszuweichen, denn sie befürchtete, dass man darin die gleiche Sorge erkennen konnte, die sie bei der Dienerin vermutete. Ja, Emilian kalkulierte, wägte ab bevor er handelte, vermied unnötiges Risiko, informieret sich lange bevor er nur einen Finger rührte, …aber es sah ihm ganz und gar nicht ähnlich wichtige Dinge nicht mit ihr zu besprechen… Alida zweifelte.
Dann sah sie wieder die nächtliche Einbrecherin an, schenkte ihr von dem Gewürzwein nach. „Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen. Bis dahin bleibst du hier, unterstützt Berta in der Küche!“ Alida wusste genau, dass die alte Köchin nicht eher Ruhe geben würde bis sie das Mädchen mit vielen Decken, Kissen und wärmenden Steinen für die Füße ins Bett verfrachtet hatte und es darin festhalten würde bis es komplett genesen wäre. Auf ihre dickköpfige Herrin der Küche war Verlass.
„Ich werde mich nach Gent auf den Weg zu Girland machen. Wenn alles wieder in Ordnung ist kannst du nach Gent zu deiner Familie zurückkehren.“ Sie nickte Anja zu und erhob sich. Aus dem Augenwinkel hielt sie nach Berta Ausschau.
Anja nickte vorsichtig. Ganz offensichtlich hatte sie sich erwartet, dass Alida an ihres Meisters statt die Bestrafung unverzüglich durchführen würde. Aber Alida verwies nur auf die nachfolgenden Konsequenzen ihres Handelns. Stumm nickend, blieb ihr auch nicht viel mehr übrig als ihr 'Urteil' anzuerkennen. Eine weitere Nacht im eisigen Regen, hätte sie nicht überstanden und Geld hatte sie keines um irgendwo anders unterzukommen. Tief in ihrem Inneren, wusste das Mädchen aber, das sie richtig gehandelt hatte. "Sehr wohl Herrin, ich werde eurer Köchin wo ich kann zur Hand gehen, bis ihr zurückgekehrt seid." Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, das aber unverzüglich wieder verschwand. Es ziemte sich nicht für eine einfach Dienerin. "Danke", flüsterte sie, ihre Worte beinahe verschluckend.
Die Brüggerin würde die emsige Berta unlängst des Wohnzimmers finden, wo sie bereits mit ein paar Decken unter dem Arm, dazu überging ein angenehmes Nachtlager vorzubereiten.
Alida nickte Anja zu. „Ich bin mir sicher, Berta wird nur Gutes über dich zu berichten wissen, wenn ich wieder zurück bin.“ Sie hätte sich gerne bei dem tapferen Mädchen bedankt, aber das zierte sich nicht für eine Kainitin bei den Tzimisce des Ostens. Also rückte sie das Essen noch etwas näher in Griffweite von Anja und verließ dann das Zimmer. Sie suchte einen Bogen Pergament und kritzelte hastig mit einer Feder ein paar Zeilen darauf. Dann verschloss sie die Nachricht und betrat das Zimmer indem sich Berta aufhielt.
„Berta? Kannst du mir einen Gefallen tun? Pass gut auf das Mädchen auf! Sie heißt Anja, ist eine Dienerin im Haushalt des meines guten Handelspartners Belinkov. Sie sorgt sich um ihren Herren. Kannst du bitte dafür sorgen, dass es ihr an nichts fehlt und dass sie sich erholen kann?“ Sie überreichte der Köchin das Pergament. „Gib das hier bitte an Frederik oder Georg. Ich mache mich so bald als möglich auf den Weg nach Gent. In diesem Dokument ist erwähnt, wo sie mich finden können.“ Die zusätzliche Aufforderung nach ihr zu sehen, wenn sie nicht innerhalb von fünf Tagen wieder zurück sei, verschwieg sie der fürsorglichen dicklichen Dame um sie nicht zu beunruhigen.
Berta wirkte etwas erschrocken und verwundert, nickte aber eifrig und machte große Augen. "Der Herr Belinkov? Ach du meine Güte, das arme Kind. Bis Gent ist's ein weiter Weg und das bei dem Wetter..." Der gute Geist des Hauses, verbeugte sich knapp und nahm das Pergament entgegen. "Ich werd mich um das Mädchen kümmern, als wär's mein eigenes, ich verspreche es euch Alida. Und Frederik oder Georg werden eure Nachricht unverzüglich erhalten." Man sah der dicken Berta augenscheinlich an, dass sie nicht wirklich damit einverstanden war die blonde Frau ziehen zu lassen aber es wäre nicht das erste Mal gewesen, das Alida eilig und aus unbestimmten Gründen noch in der Nacht aufgebrochen wäre. Immer wieder hatte sie Besuch von den merkwürdigsten Leuten und kümmerte sich um die seltsamsten Dinge. Aber Berta stand es nicht zu darüber zu urteilen, sie tat was man von einer guten Dienerin erwartete; drückte Alida nur kurz liebevoll die Hand. "Bitte gebt auf euch Acht Alida. Wenn ihr nicht mehr wiederkommt.. ich könnt's mir nimmer verzeihen." Dann kümmerte sie sich weiter um das Nachtlager für Anja.
Alida bedankte sich noch einmal bei der gutherzigen Berta und eilte dann so schnell sie konnte ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen in ihr Zimmer. Sie stopfte ein paar Kleidungsstücke in die Tasche, suchte einen weiten dunklen Mantel, was ihr sonst noch so einfiel zusammen und betrat die Stallungen. Sie suchte nach dem schnellsten und trittsichersten Tier, das die Familie besaß, einen langbeinigen deutschen Hengst. Das Tier war nicht sehr ausdauernd und im Gegensatz zu den heimischen Brabantern im Winter lieber im Stall als auf der Koppel, aber darauf würde sie in dieser Nacht keine Rücksicht nehmen. Bis nach Gent würde es das Tier wohl schaffen ohne Schaden zu nehmen. Sie hüllte sich in den Mantel und ritt in Richtung Osttor. Einige Stunden würde sie benötigen. Sie verfluchte bereits jetzt jede einzelne Minute davon.
Das Packen ging schnell von der Hand, hier ein wärmendes Unterkleid, da ein paar Reservestiefel. Im Nu hatte Alida alle möglichen Dinge und Gerätschaften, entweder in großen Satteltaschen oder Rucksäcken verstaut und war bereit für den Aufbruch. Im Stall war es selbst für die kalte Jahreszeit recht warm, das machten die großen Stroh- und Heuballen, die nicht nur als Futter und Bodenbelag, sondern auch an den Wänden zur Isolierung dienten. Man munkelte ja, dass die die weniger wohlhabenderen Bauern, ihre Häuser genauso abdichteten. Der deutsche Hengst, den man aus unerklärlichen Gründen 'Heimdal' getauft hatte, war ein äußerst stattliches Exemplar und wurde hauptsächlich für schnelle Botenritte benutzt. Es war kräftig, gelenkig und robust und kaum ein Pferd in der Stadt wäre schneller. Allerdings war es nicht für unwegsame Pfade, allzu kalte Witterung oder stundenlange Ausdauer gedacht.
Und bis nach Gent würde Alida gute 7-8 Stunden reiten. Ein Blick zum Himmelszelt verriet ihr, dass es bereits um die neunte Stunde sein musste. Es war keine weitere Zeit mehr zu verlieren.
Alida ritt auf Heimdal immer Richtung Gent, hielt sich zumeist auf den gut ausgetretenen Pfaden, obgleich diese das eine oder andere Mal auch tückisch waren. Der Schnee war geschmolzen und dann wieder gefroren; die nachfolgenden Regengüsse kühlten in der Nacht zusätzlich ab und bildeten dicke Eisschichten. Zum Glück hatte Alida ein sehr erfahrenes Ross, das man merklich auf Geschwindigkeit und Agilität trainiert hatte. Heimdal nahm ihr den Großteil der Arbeit ab, nicht zuletzt weil er schon halbwegs zu wittern schien, wohin die Reise ging. Gent war für das stattliche Botenpferd, kein unbekannter Ort mehr. Räuber oder Wegelagerer begegnete Alida keinen. Entweder arbeitete Clara als Späherin so gut, Lucien war ein vortrefflicher Hauptmann oder aber es war schlichtweg zu kalt um sich ruhigen Gewissens ohne verräterisches Feuer, stundenlang nahe der Straße aufzuhalten und Reisenden aufzulauern. Sie kam gut voran.
Die ganze Nacht war sie unablässig weiter geritten, mal war ihr eisiger Wind, dann abwechselnd Schnee und Regen ins Gesicht gepeitscht. Heimdal hatte aber seinen Namen alle Ehre gemacht und sie bis an die Tore von Gent geführt, wo sie nach kurzem Gespräch mit den Wächtern auch eingelassen wurde. Jetzt aber merkte sie nicht nur dass ihr treues Ross mit den Kräften am Ende war, sondern dass es auch nicht mehr allzu lange dauern würde, ehe der Tag anbrach. Ihr blieb vielleicht noch eine, höchsten eineinhalb Stunden. Gent indessen, hatte sich nach wie vor nicht verändert und verfügte nach wie vor über die einzelnen Verteidigungsringe aus hohen Mauern und Schießscharten. Der Atem von Heimdal, den er aus seinen dicken Nüstern blies, kondensierte an der kalten Luft und der Hengst schüttelte unzufrieden die schwarze Mähne. Hier in Gent musste sie um diese Zeit Acht geben, denn Heimdal würde nicht nur auf dem regulären Markt, ein kleines Vermögen einbringen.
Alida nahm wie immer wenn sie in Gent war die breiten, gut beleuchteten Wege zum leicht außerhalb gelegenen Anwesen ihres Erzeugers. Ob es wohl die Art von fast allen Menschen des Ostens oder von allen Unholden war in gebührendem Abstand zum Rest der Zivilisation ihre Zelte aufzuschlagen? So konnten sie wohl eher ihren eigenen Belangen nachgehen ohne große Aufmerksamkeit zu erregen. Sie konzentrierte sich auf jegliche drohende Gefahr behielt ihr Tempo dabei jedoch stets bei. Sie klopfte dem Tier leicht auf die Flanke. „Nicht mehr weit, Heimdall. Dann gibt’s nen Stall, Stroh, Hafer… tolle Aussichten, nicht?“
Alida trabte wie selbstverständlich die gut ausgeleuchteten Wege entlang. Die Pfade vor ihr, waren ihr gut bekannt, schließlich war sie die selbigen nur allzu oft entlang geritten. Alleine oder mit Herrn Belinkov, zu seinem Anwesen und von diesem wieder zurück in die Stadt. Es war schon merkwürdig, wenn sie daran dachte das Brügge ihr eigentliches Zuhause war. Wenn sie hier in Gent war, gemeinsam mit Emilian, fühlte sie sich gut, konnte Sorgen und den Alltag hinter sich lassen. Gent war ein paar Stunden entfernt und doch eine gänzlich andere Welt. Eine Welt die geprägt war von der Liebe zu ihrem Erzeuger Sergej Belinkov.... der alleine losgeritten war. Wohin, das wusste sie nicht. Warum, das war ihr ebenfalls nicht bekannt und für gewöhnlich setzte er sie über jegliche längere Reise in Kenntnis. Wenn schon nicht anders, dann zumindest im Voraus schriftlich. Die Gefahr schien sich an diesem Abend, einen anderen Ort gesucht zu haben um müden Reisenden das Leben schwer zu machen, denn sie kamen unbehelligt zum Anwesen ihres Erzeugers, in dem wie üblich gedämpftes Licht brannte und seine verstreute Wachleute ihren Dienst versahen.
Heimdal schüttelte sich, als hätte er Alida tatsächlich verstanden. Die Aussicht auf Ruhe schien dem Hengst noch einmal ungeahnte Energien zu verleihen. Einer der Wachleute hielt Alida vor dem Tor zum Innenhof auf und hob eine Laterne näher an ihr Gesicht. "Herrin van de Burse. Ihr erscheint unangekündigt? Niemand weiß, dass ihr den Herren aufzusuchen wünscht. Wie.. warum... seid ihr..." Sein Kollege stieß ihn in die Rippen und übernahm das Reden. "Entschuldigt Herrin, aber Herr Belinkov ist nicht zugegen, gerne aber kümmern wir uns um euer Pferd, wenn ihr Meister Girland aufsuchen möchtet." Es war manchmal tatsächlich der Fall, dass Emilian noch kurz zu tun hatte, in diesem Fall war Alida, so wie auch an diesem Abend, an Girland weiterverwiesen worden.