So 27. Dez 2015, 16:20
Es gabe einst eine Zeit, da waren ihm all diese Eindrücke ironischerweise viel näher und einprägsamer vorgekommen. Eine Zeit vor seiner Position im Rat oder als Hauptmann der Stadtwache. Ein Amt, das er einst vielleicht in sterblichen Tagen angestrebt hätte, wäre da nicht die leidliche Tatsache gewesen, dass niemand so ohne weiteres, den Bock zum Gärtner auserkoren hätte. Mittlerweile war er ein Wolf im Schafspelz. Möglicherweise ein recht zahmer, domestizierter Wolf aber unleugbar weniger der große Verteidiger und Wahrer der Sicherheit und Ordnung, als ihm alle zugestanden. Natürlich bildete er die Soldaten aus und hatte sich selbst zum 'Hauptmann' aufgeschwungen aber anders als all die anderen, wusste er nach wie vor warum er all diese Mühen auf sich nahm. Selbstgerechtigkeit und Eigenlob warem ihm fremd. Lucien Sabatier war tot und ernährte sich vom warmen Blut der sterblichen Schafe, die er nun gemeinsam mit dem Rest der untoten Bevölekung, schon seit einigen Jahrzehnten recht erfolgreich hegte und pflegte. Man mochte die Gegebenheiten der Stadt Brügge in warme, duftige Worte kleiden, wie ein heißer Becher Met vor einem prasselnden Kaminfeuer oder der Duft einer zarten Frühlingsblume aber es änderte nichts daran, das die Sicherheit und das Wohlergehen der flandrischen Stadt, stark mit dem Wohlergehen der Kainiten einher ging. Altruismus war eine herrlich Selbstlüge, die man sich kurz vor dem Morgengrauen immer wieder selbst erzählen konnte um besser zu schlafen. Allein die Akzeptant dessen, was jederzeit bereit war aus einem hervorzubrechen und tief in ihnen allen schlummerte, schenkte einem wirkliche Freiheit. Belügen und Betrügen gehörte ohnehin zum guten Ton der Unsterblichen, da war es umso wichtiger sich selbst gegenüber treu zu bleiben.
Freiheit und eine unleugbare Ursprünglichkeit waren es auch, die er wie so oft verspürte, als er sich durch den tief verschneiten Wald bewegte. Hier war er allein und konnte sich herrlich in seinen eigenen animalischen Instinkten ergehen. Der weiße, zarte Schnee der das Land in eine stille, zeitlose Decke hüllte, der Geruch der harzigen Bäume und die gelegentlichen Rufe der nachtaktiven Vögel und anderen Tiere. Manchmal saß er einfach nur auf den Überresten eines umgefallenen Baumes, um all diese Eindrücke, in der ruhigen Gewissheit der ultimative Jäger des Waldes zu sein, in sich aufzunehmen. Gerade auch diese neuartigen Nordlichter, die er zuvor noch nie gesehen hatte, schienen es ihm besonders angetan zu haben. Sie versprühten eine ganz eigene urtümliche Magie und gerade das Bild des Wolfes, das sich in den grünen Streifen am klaren Nachthimmel abzeichnete, ließ ihn die Mundwinkel zu seinem zufriedenen Lächeln verziehen. Kainiten waren für gewöhnlich Wesen der Stadt aber niemand der sich hinter den steineren Mauern der Zivilisation verbarg, konnte sich diesem makellosen Schauspiel von Mutter Natur in all seiner Pracht, gänzlich hingeben. Was für eine Szenerie, was für eine ungebrochene Kraft. Und wenn Brügge längst Asche wäre, ein Totenacker auf dem die Gebeine der Menschen sich stapelten, würde das Gras wachsen, die Flüsse sich ihren Weg durch die Wiesen bahnen und die Tierwelt sich zurückerobern, was von sterblicher Hand, den eigenen Bedürfnissen angepasst worden war. Die Natur brauchte die Menschen nicht, während diese auf Gedeih und Verderben von ihr abhängig waren. Meistere die Wildnis und meistere dich selbst, dann hast du deine größten Gegner bereits besiegt.
Wo er sich gerade mit 'Gegnern' und 'Konkurrenten' beschäftigte, vielen ihm doch auch wieder die merkwürdigen Geschehnisse, die sich in jüngster Zeit in seinem Wald ereignet hatten wieder ein. Gesunde und stämmige Kerle, bewaffnet und gerüstet in Fetzen gerissen als bestünden sie lediglich aus Pergament. Allein der Ausdruck in ihren Gesichtern zeigte ein Bild der schieren Furcht und Angst. Das letzte, was sie in ihrem sterblichen Dasein zu Gesicht bekommen haben mussten, war wohl ein fleischgewordener Alptraum gewesen. Niemand wusste besser als Lucien, was es hieß der Gejagte zu sein, hoffnungslos unterlegen, verfolgt von etwas so rohem und brachialem, das einem das Blut nicht nur aufgrund der klirrenden Kälte gefror. Die Bestie aus dem finsteren Wald. Sicher war nur, das es sich diesmal nicht um ihn handelte. Doch wo solch bestialische Morde geschahen, war das Übernatürlich nicht weit, gerade wenn keinerlei Spuren ausfindig gemacht werden konnten. Carla hatte also gewiss nicht unrecht damit, dass diese Toten nicht einfach aus offensichtlichen oder zumindest im Ansatz nachvollziehbaren Gründen umgebracht worden waren. Irgendetwas war wieder faul im seinem Wald und das, obwohl die Wildnis rings um Brügge ohnehin schon schwer unter diversen Störungen hatte leiden müssen.
Stapfend kämpfte er sich seinen Weg durch die dicke, frisch gefallene Schneedecke und hob den Blick kurz in den Himmel um erneut das funkelnde Grün der sich dahinschlängelnden Lichter zu betrachten. Was für ein Anblick, was für eine Nacht. Es war wieder so wie es hätte sein sollen. Mensch gegen Bestie. Bestie im Einklang mit ihrer Umwelt. Der perfekte Jäger in einer unwirtlichen, gefährlichen Umgebung. Keine ermüdende Politik, kein Abwägen und Einschätzen sondern der ewige Kampf ums Überleben. Das waren Dinge, die noch rein und unverfälscht waren, keine doppelten Böden, keine Stolperfallen und Spitzfindigkeiten. Direkt und blutig. Wir gegen sie. Sie gegen uns. Es war erfrischend einfach und natürlich.
Den allgegenwärtigen Gestank in den Gassen der Stadt ignorierend, machte er sich auf zur Unterkunft von Clara, die mittlerweile als Späherin und Kundschafterin der Stadtwache verpflichtet werden konnte. Eine Tätigkeit, die sie nicht nur aufgrund ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit sicher zu schätzen wusste, sondern die sie bisher auch zur vollsten Zufriedenheit aller ausgeübt hatte. Ein weiteres Paar geschulter Augen und Ohren im Wald, die genau dort hinsahen und hörten, wo der Rest sich ängstlich abwandte. Seine Stiefel versanken im frisch gefallenen Schnee, der die gepflasterten Straßen bedeckt als er kurz inne hielt um der seltsamen Weise zu lauschen. Fast schien es so, als erklänge die sanfte Frauen- oder Mädchenstimme allein in seinem Kopf, ein unwirklicher Zauber welcher der Wind ihm zutrug. Der leise herabrieselnde Schnee, bedeckte seine zotteligen, ungekämmten Haare und er wagte es nicht zu blinzeln. Er konzentrierte sich um eine bestimmte Richtung auszumachen, scheiterte aber. Vielleicht lag ja tatsächlich eine Art Magie in diesen magische-grünen Nordlichtern, die man Gerüchten zufolge doch tatsächlich nur am Ende der Welt erblicken konnte. War es schon soweit gekommen, das Brügge ein weiteres 'Ende' geworden war? Oder war dies erst der Anfang zu etwas gänzlich anderem? Die grausamen Morde, fügten sich nur zu gut in diese Aneinanderreihung and Seltsamkeiten ein.
Langsam setzte er sich wieder in Bewegung, getragen, etwas schwerfällig vielleicht. Immer wieder verwundert der Stimme in seinem Kopf lauschend, ob er nicht doch noch den Standort der Sängerin ausmachen könnte. Schließlich kam er vor dem Eingang von Claras Unterkunft an, wandte den Blick kurz argwöhnisch von links nach rechts und hob ihm Anschluss, die in einem dicken Lederhandschuh steckende Hand, um anzuklopfen. Hart pochte sein Klopfen, auf das teils gefrorene, dunkle Holz der Tür. Was für eine merkwürdige und doch beunruhigend schöne Nacht.