Venedig
Dezember, 1202„Wie viel willst du mir geben?“ Leif sprach die Worte in schnellem Italienisch, fast ohne einen erkennbaren Akzent. Er seufzte und atmete einmal tief durch. Brackiges Wasser, altes Holz und der Geruch des ungewaschenen Verkäufers vor ihm überfluteten seine Wahrnehmung und machten es ihm noch ein wenig schwerer sich zu konzentrieren. „Die Einlegearbeiten des Blattes sind aus echtem Silber und der Stahl selbst ist schon das Dreifache von dem Wert was du mir angeboten hast.“ Der Nordmann zeigte auf die im Licht der Kerzen schimmernde Doppelaxt. Das ganze Spiel ging jetzt bestimmt schon eine halbe Stunde so, aber der schmierige Besitzer des Pfandhauses ließ sich einfach nicht beirren. Er war älter, vielleicht um die 40, während ein Schnurrbart und langes, immer noch Rabenschwarzes Haar, welches zu kunstvollen Zöpfen geflochten war dicht von seinem Kopf spross. Darüber hinaus trug er einen dicken Bauch vor sich her, der von seinem Wohlstand zeugte. Sein Italienisch hatte einen weit größeren Akzent als das von Leif, aber auch wenn er kein Einheimischer war hieß das nicht, dass Leif hier nicht trotz allem im Nachteil war. „Aber dafür sieht der Griff aus als wäre er vor fast 200 Jahren das letzte Mal gewechselt worden. Abgesehen davon dürfte den Herrschaften nicht entgangen sein, dass vor den Toren der Stadt eine ganze Armee aus Verteidigern des Abendlandes lagert die bald einen Überfluss an Waffen in die Stadt bringen werden um für die Verlockungen von Frauen und feinstem Essen zu bezahlen.“ Ein Magenknurren von dem rothaarigen Mann, Balduin van de Burse neben ihm unterbrach den Verkäufer kurz in seiner Ausführung, die er aber gleich unbeirrt weiter ausführte. „Das bedeutet die Preise für Stahl und Waffen werden sowieso fallen und das weiß jeder andere Händler der Stadt auch.“ Er schaute Leif mit einem schmierigen Grinsen an. „Es ist quasi reinste Mildtätigkeit und Nächstenliebe von mir wenn ich euch dieses ‚Erbstück‘ zu solch einem großzügigen Preis abzukaufen. Ihr ruiniert mich fast.“ Leif fühlte sich ohnmächtig, wenn auch noch nicht verzweifelt, aber er wusste dass er keine andere Wahl hatte. Ihnen war das Geld ausgegangen und sie hatten bereits alles zu klingender Münze gemacht was sie verkaufen konnten und jetzt in der zweiten Runde musste man eben noch ein wenig kreativer werden. Leif hatte schließlich einen Entschluss gefasst. „In Ordnung. Wir haben eine Abmachung.“ Der Verkäufer rieb sich die Hände und fischte ein kleines Säckchen Münzen aus eine der vielen Taschen hervor, die in sein Gewand eingewebt waren und warf es vor den Salubri. „Es ist mir eine Ehre und Freude mit euch Geschäfte zu machen.“ Leif knurrte nur leicht und zählte die Münzen. Dann nickte er kurz und innerhalb weniger Sekunden verschwanden die beiden Männer aus dem Laden mit all seinen Kuriositäten und exotischen Waren die jene die Geld brauchten bereits zuvor hier verpfändet hatten.
Sie traten auf die Straßen des nächtlichen Venedig. Der Mond war von Wolken verhangen und ein eisiger Wind wehte durch die Straßen. Ein besonders kalter Winter kündigte sich an, was man schon an dem Eis erkennen konnte, welches langsam in den Kanälen hin und her trieb. „Die Axt war dir wichtig oder? Ich erinnere mich das du einmal gesagt hast sie wäre dir von jemand besonderem gegeben worden.“ Balduin adressierte ihn in Flandrisch und Leif antwortete in eben jener Sprache. „Ja das stimmt. Sie wurde mir von meinem alten Freund Knut zu meiner Hochzeit geschenkt. Er war eine wichtige Person in meinem damals sterblichen Leben. Das Geschenk war königlich. Aber am Ende ist auch nur ein Symbol. Die Erinnerungen an ihn kann mir zum Glück niemand nehmen, auch kein schmieriger Händler der sich wahrscheinlich gerade freut das Geschäft seines Lebens gemacht zu haben. Ich bin mir sicher er wird beim Weiterverkauf ordentlich Gewinn machen.“ „Vielleicht können wir es ja vorher noch zurückkaufen? Wir könnten noch einmal versuchen unsere Heilkünste anzubieten, dieses Mal vielleicht außerhalb der Stadt?“ „Nein das ist schon in Ordnung Balduin. Ich verlieren lieber eine Axt als euch an Kälte und Hunger. Außerdem glaube ich das die Gilde der Heiler und Ärzte uns auch dann findet. Es würde vielleicht ein bisschen länger dauern, aber sie sind gut organisiert und ich befürchte bei einer weiteren Übertretung ihres Gesetzes zur unerlaubten Ausübung von medizinischen Diensten kommen wir nicht mit einer simplen Verwarnung davon.“ Leif konnte aus den Augenwinkeln sehen wie Balduin sich tiefer in seinen zu großen Mantel flüchtete. Sie gingen ein Stück weiter und kamen am Hafen des Fremdenviertels vorbei, in welchem sie auch ihre Zuflucht hatten. Es gab hier viele Handelsschiffe und noch mehr Ausländer. Sie fielen hier am wenigsten auf. Leif entdeckte etwas und blieb sofort stehen. „Ich wusste gar nicht das Alidas Unternehmungen bis nach Venedig reichen.“ „Ich auch nicht." antwortete Balduin. "Es gibt auch soweit ich mich erinnere bis jetzt noch keinen regelmäßigen Handel. Ich vermute ehr, dass dieses Schiff hier ist um den Markt selbst zu analysieren. Du weißt schon. Sache wie - welche Waren brauchen sie hier, was wollen sie hier, wer hat Einfluss...solche Dinge. Ich denke sie sind zwar hier um zu handeln aber ehr mit den Dingen die man hier immer los wird wie Eisenerz, gutem Bauholz für Schiffe oder Getreide und dann auch nicht einmal sonderlich viel davon.“ Der Nordmann quittierte die Erklärung mit einem Nicken.
Leif war stehengeblieben und deutete mit dem Finger auf eines der Schiffe. Das vertraute Wappen der Familie van de Burse war in die Seite des Holzes geritzt. Drei Geldsäcke. Leif musste ein wenig schmunzeln. „Sag mal Balduin wer von euch hat sich eigentlich dieses Wappen ausgesucht? Ich meine Aussage hinter einem solchem ist schon ein wenig...äh...sagen wir mal mutig in seiner Eineindeutigkeit.“ Balduin antworte mit scherzhaftem Unterton. „Keine Ahnung aber du kennst doch das alte Sprichwort ‚Nomen est Omen‘ und ich denke das Gleiche trifft bestimmt im übertragene Sinne auch auf die Bilder von Wappen zu.“ Die gute Stimmung des Moments war für den Salubri schnell wieder verflogen, als er das kleine Säckchen mit dem Geld spürte, dass an seinen Körper zu brennen schien. Leif suchte nach Worten. „Es tut mir Leid, dass die Zeiten so hart sind im Moment. Wenn ihr nicht mit mir gekommen wärt, dann müssten du und Catherina jetzt nicht altes Brot essen, sondern ihr könntet es euch bei deiner Familie mit Äpfeln in Sahne und Fleisch in dicken Soßen gut gehen lassen.“ Er schaute den rotblonden Mann nicht an, hörte nur dessen Stimme. „Wir haben darüber geredet Leif, aber wir denken immer noch, dass die Entscheidung richtig war fortzugehen. Insbesondere
ich denke das es richtig war.“ Balduin holte ein bisschen weiter aus mit seiner Erklärung. „Weißt du Leif ich wollte schon immer irgendetwas Gutes tun, etwas hinterlassen und dieses Unterfangen ist schwierig. Aber ich habe inzwischen auch das Gefühl das ich einmal von meiner Familie weg musste. Zumindest für eine gewisse Zeit. Vielleicht schaffe ich es ja in der Ferne etwas aufzubauen, hinter dem nicht die drei Geldsäcke hervorleuchten. Wenn ich im Handelshaus angefangen hätte, wäre ich nur ein weiteres Rädchen im Getriebe und auch wenn ich irgendwo anders eine Arbeit angefangen hätte, dann würde jeder denken Alida oder sonst wer hätte Beziehungen für mich spielen lassen, damit ich diese Position bekomme. Genauso wie damals als ich als Lehrling im Hospital angefangen habe.“ Leif wusste nicht so recht was er darauf antworten sollte. Immerhin hatte er Recht. Balduins Position als einer der Schüler war ein Teil von Alidas Bedingungen gewesen das Hospital zu finanzieren. Glücklicherweise sprach Balduin gleich weiter. „Versteh mich nicht falsch. Ich liebe meine Familie, mit all ihren Macken, Schrullen. Aber sie sind auch warm, glauben an bestimmte Werte und haben eine fortschrittliche Einstellung. In diesem Haus aufzuwachsen hat mich immerhin zu dem Mann gemacht der ich bin und auch ansonsten einige großartige Individuen hervorgebracht. Aber ich denke eben auch das war ein Teil meines Problems. Ich wusste immer ich würde zwischen all diesen Persönlichkeiten wie Marlene, Frederik und Alida, ja selbst meiner Schwester Alyssa untergehen wenn ich nicht meinen eigenen Weg einschlage.“ Leif hörte interessiert zu. Er kannte diese Seite von Balduin noch gar nicht, aber ihm gefiel die Offenheit und das wachsende Selbstvertrauen das seit ihrem Aufbruch in Brügge offensichtlich in ihm zu wachsen schien. Schließlich kamen sie in ihrer Unterkunft an einem schäbigen Gasthaus, welches aber warm war und in welchem Anonymität einen hohen Stellenwert einnahm. Leif nutze die Gelegenheit um die ausstehende Miete der Zimmer zu begleichen und ein Abendessen für alle zu bestellen. Im kam nämlich gerade ein Gedanke, wie sie aus ihrer Miesere ausbrechen könnten. Innerhalb kurzer Zeit waren alle in einem kleinen Nebenzimmer versammelt. Charlotte saß neben John, der weniger abgemagert schien als Balduin. Offensichtlich weil ihm das kainitische Blut zusammenhielt. Catherina hatte sich gleich an Balduins Schulter gelehnt und lächelte. Auch sie hatte einiges an Gewicht verloren, was die eingefallenen Wangen und hervorstehenden Schlüsselbeinknochen bezeugten. Sie lächelte trotzdem zufrieden.
Schließlich kam das Essen. Ein einfaches Abendmahl, bestehendes aus warmen Getreidebrei mit zwei Scheiben Schweineschinken und frischem gegrilltem Fisch aus der Lagune. Dazu gab es noch ein Art Eintopf oder dicke Soße aus Winterlauch, Speck und Zwiebeln die herrlich nach Knoblauch und mediterranen Gewürzen roch. Sowie einen ganzen Leib frischgebackenen und duftenden Brotes aus Weizen und Olivenöl welches hier so gerne gegessen sowie einige eingelegte Oliven. Der Wirt spendierte ihnen heute sogar noch eine Flasche mit verdünntem Wein aus den naheliegenden Bergen hinzu. Es war ein guter gottesfürchtiger Mann, der seinen Mitmenschen gerne etwas Gutes tat, wann immer er sich leisten konnte. Außerdem hatte Leif seine Frau von einem Leiden kuriert welches ihnen nicht nur einen guten Preis für das Zimmer sondern auch die ehrliche Dankbarkeit des Patrons eingebracht hatte. Catherina, John und Balduin aßen schweigend, aber die Zufriedenheit auf ihren Gesichtern zeugte deutlich davon, dass dies das beste Essen war, was jeder von ihnen seit langer Zeit kosten durfte. Leif war glücklich und ehrlich erleichtert seine Leute so zu sehen und auch wenn ihn der Verlust des einzigen Stückes das er noch von Knut hatte trotz allem schmerzte, war es das Opfer doch Wert gewesen. Aber jetzt ging es darum für die Zukunft zu planen und Leif ergriff schließlich das Wort, als auch der letzte Rest des Mahls aufgegessen waren. Er war unsicher wie schon so oft in den letzten Tagen. Er wollte keine Versprechungen geben die er nicht halten konnte. Das war einfach nicht seine Art und es fiel ihm schwer eizugestehen, dass er sich mit der Situation in Venedig so sehr verschätzt hatte. „Ich mache kein Geheimnis daraus das Venedig bis jetzt nicht sonderlich gut zu uns war. Deshalb müssen wir weiter. Weiter nach Konstantinopel. Dort können Balduin und ich wieder als Heiler arbeiten um zusätzliches Geld zu verdienen. Außerdem wird es zusätzlich einfacher wenn Charlotte und ich uns als Kainiten bei den Herrschern der Stadt anmelden können. So oder so wir müssen handeln und ich habe auch einen Plan wie wir schon nächste Woche aufbrechen können. Leider ist diese Idee nicht sonderlich legal oder ungefährlich.“ Leif schaute in die Runde und sah die entschlossene Zustimmung. Sie alle wussten, dass es ihre letzte Chance sein könnte. „Also gut dann hört mir jetzt bitte zu...“