Leif nickte während er die Gesellschaft beobachtete, die sich so schwerelos durch die marmorne Halle bewegten. Seide und Brokat, Gold und Silber, die hohen Clans wussten zu beeindrucken während der uralte Ventrue Hardestadt nur ausdruckslos über das Schauspiel herrschte. Leif konzentrierte sich wieder auf seinen Gesprächspartner und nickte kurz. “Fäuste sind nie eine Antwort, zumindest nicht bei Hofe und wenn die ganze Gesellschaft zuschaut.” Der Nordmann schwieg einen Moment und überlegte wie er eigentlich zu Haus und Clan stand. Dann schüttelte er kurz den Kopf. “Ich glaube, die Frage ist gar nicht mehr was man über den Konflikt an sich denkt, denn die Tremere haben eh gewonnen. Die Salubri sind so gut wie verschwunden und die Usurpatoren haben schon lange ihren Platz unter den 13 eingenommen, ob man das gut heißt oder nicht. Was mich sehr viel mehr interessiert ist wie es jetzt weitergehen wird. Nehmen die Hexer die Rollen an, die die Salubri an vielen Höfen innehatten? Erobern sie sich ihre eigene Nische mit Bluthexerei und magischen Gefallen, oder verdrängen sie gar noch andere Clans?” Leif zuckte mit den Schultern. “Ich glaube die Tremere sind zu allem entschlossen, was sie am Beispiel der Salubri mehr als deutlich gezeigt haben. Diese Effektivität wird das Thema für zukünftige Nächte sein und wir sollten Acht geben, dass es keinem von uns ergehen wird wie den Salubri:”
Der Mann kam näher. „Sollten die Verbrechen der Tremere, sollte es sich tatsächlich um solche handeln, bewahrheiten, mag es doch umso erstaunlicher sein, dass ihre Effizienz die Rechenschaft, die sie eigentlich ablegen müssten, in so ausgeprägtem Maße übersteigt. Aber selbstverständlich handelt es sich nur um Gerüchte…“ Er ließ die Worte im Raum stehen. „Und es wäre interessant zu wissen in welchem Maße die einzelnen Tremere tatsächlich in die Geschehnisse eingeweiht wären. Kann man das Auslöschen eines ganzen Clans wirklich geheim halten? Oder mag es sich bei den Salubri tatsächlich um Teufelsanbeter handeln, die eine möglichst baldige Vernichtung erhalten sollten… so wie die meisten Baali? Nun ja… Fragen über Fragen.“ Er schmunzelte. „Glücklicherweise, für jeden Feind der Salubri, erkannt man sie selbstverständlich an ihrem markanten Wahrzeichen… unverkennbar. So weiß jeder gleich, mit wem er es zu tun hat.“
Leif bedacht die Dinge die Trajan ihm erzählte und stimmte ihm bei vielen seiner Ausführungen innerlich zu. Moral und Wahrheit lagen nicht immer eng beieinander und so sehr ihn der Genozid an seinem Clan auch schmerzte, so war ihm auch klar, dass die Tremere ein williges Opfer gefunden hatten. Die Passivität so vieler seiner Geschwister hatte ihn zum Verzweifeln gebracht und die Auslöschung der Einhörner nur noch beschleunigt. Leif legte großen Wert darauf mit dem interessierten Ton eines Scholaren und nicht dem eines Opfers zu sprechen, bevor er sich wieder an Trajan wandte. “In der Tat: das dritte Auge.” Vielleicht war es besser das Thema ein wenig abzulenken. “Ich bin gespannt, wie lange es dauern wird bis die Erzählungen über den alten Clan der Einhörner von Fakt zu Fiktion wird und man sich Legenden über seelenfressende dreiäugige Monster erzählt um unerfahrene Neugeboren zu erschrecken. Wenn man die aktuelle Situation betrachtet mag es nicht mehr lange dauern.”
Sein Gegenüber schüttelte fast stoisch den Kopf. „Da mögt ihr Recht haben- zum Guten, wie zum Schlechten.“ Eine ältere Frau in dunkelgrüner Robe hatte ihn erspäht und ihm aus der Ferne zugenickt. „Meine Gastgeberin“, kommentierte der fremde Mann. „Es wird von mir erwartet, dass ich mich wieder ein wenig den Festlichkeiten widme. Es war mir eine Freude euch kennen gelernt zu haben, Leif Thorson. Ich werde Mainz bereits übermorgen wieder verlassen. Ich wäre gespannt, mich weiter über die Belange der kainitischen Clans mit euch austauschen zu können. Wäre euch ein Treffen abseits solcher herrschaftlichen Feiern genehm?“
Sein Blick schweifte die Gastgeberin in grüner Robe bevor Leif zur Verabschiedung seinen Arm Trajan entgegen streckte. “Gerne. Ich bin noch ein paar Tage hier und habe Zeit.” Er verbeugte sich leicht. “Wo wäre es euch denn genehm?” Der Salubri mochte seinen Gesprächspartner, auch wenn er sich vornahm Charlotte bei Gelegenheit zu befragen ob sie etwas über den Wanderer wusste.
„Meine Gastgeberin, Anna von Eschenbach, lebt in einem Haus im Goldviertel, neben der Apotheke des heiligen Maurus, nicht weit vom Dom entfernt. Es sollte leicht zu finden sein. Oder gibt es einen Ort, der euch besonders beliebt? Zur neunten Stunde?“ Der Mann wartete Leifs Antwort ab und nahm die Hand des Heilers. Das seltsame Gefühl, das Leif bereits zu Beginn der Begegnung gehabt hatte, bewahrheitete sich. Die Haut des Mannes war warm. Er hatte das Gefühl, dass noch etwas anderes ihn von den restlichen Kainiten unterschied, aber sein Gesprächspartner hatte sich bereits abgewandt und war in Richtung der älteren Frau gegangen.
Leif verbeugte sich noch einmal und lächelte. “Zur neunten Stunde im Goldviertel. Ich bin selbst nur Gast in dieser Stadt, daher ist euer Vorschlag besser als jeder, den ich bringen könnte. Ich wünsche euch noch eine gute Nacht.” Der Salubri wartete bis Trajan nicht mehr zu sehen war und hielt Ausschau nach Carminus. Vielleicht wusste der Ventrue etwas über seinen vorherigen Gesprächspartner oder zumindest seine Gastgeberin. So oder so - Leifs Interesse war geweckt.
Er konnte Carminus nirgendwo entdecken. Entweder war der Ventrue bereits gegangen oder er war mit Angelegenheiten beschäftigt, die in anderen Räumlichkeiten statt fanden. Charlotte gab ihm schließlich ein paar wenige Auskünfte über die Kainitin Anna von Eschenbach. Es handelte sich, so viel hatte sie mittlerweile erfahren können, um eine Ventrue, die noch recht jung war und sich nur allzu gerne mit interessanten Persönlichkeiten umgab. Sie galt als offen und tolerant und beherbergte immer wieder Gäste von außerhalb. Sie selbst reiste viel und war immer wieder auch in anderen deutschen Städten anzutreffen. Bezüglich des Gesprächspartners wusste sie nichts zu berichten, versprach aber sich umzuhören.
Gegen Ende des Abends hatte sie nicht viel mehr Informationen zusammen tragen können. Man vermutete, dass es sich bei Trajan um einen Ventrue, Brujah oder Kappadozianer handeln musste. Manch einer vermutete auch einen Malkavianer, da es eine Stadt namens Vetera nicht gab, doch ein anderer Kainit, ein Ahn aus Köln, hatte gemeint, dass das ein alter Name der Stadt Xanten am Niederrhein sei.
Leif hatte wenige Informationen über den Fremden zusammentragen können, was ihn aber noch interessanter machte. Anna von Eschenbach war wahrscheinlich eine Art Gönnerin und so oder so würde er morgen mehr über beide herausfinden. Der Salubri verabschiedete sich für den Moment von Charlotte, auch wenn er wusste, dass er sein Kind später sowieso in ihrer Kammer wiedertreffen würde. Heute Nacht würde er noch ein wenig den Schneefall genießen.
Leif entschied sich dazu noch ein wenig an den Reigentänzen teilzunehmen. Die Tanzschritte wurden mit der Zeit immer schneller und hier unterschied sich der perfektionistische Toreador durchaus vom einfachen Malkavianer, dem man die Anwesenheit hier bei den hohen Clans gestattete. Charlotte unterhielt sich mit einer Gruppe Adeliger, die zuletzt kurzzeitig an den Höfen der Liebe gelebt hatten und tauschten Klatsch und Tratsch aus. Der gutaussehende Nordmann wurde sofort in die Reihen der vier Kainiten aufgenommen und von allen mit viel Interesse beäugt. Auch erinnerte man sich seines Mutes vor wenigen Stunden einem Brujah, kurz vor der Raserei, entgegen getreten zu sein. Das hätte nicht jeder gewagt. Man tauschte sich ein über die Unterschiede des höfischen Lebens von England, Deutschland und Frankreich aus. Zwei Damen schien jedoch bereits nach kurzer Zeit das Interesse abhanden zu kommen. Sie hatten von ihren Ängsten bezüglich der Bedrohung aus dem Osten berichtet, auf die niemand so recht eingehen wollte. Schließlich entschied man sich dazu einem der Tänze beizuwohnen um den Damen höflicherweise zu Diensten zu sein. Leif bekam eine Tanzpartnerin zugeteilt, die wohl zuletzt vor fünfzig Jahren geprobt hatte. Dementsprechend schaffte er es mit etwas Mühe der Geschwindigkeit zu folgen und sich nicht bezüglich der Richtung zu verhaspeln. Wenige Sekunden nachdem sie geendet hatten, begannen die Musiker bereits mit dem nächsten Lied.
Leif entschuldigte sich irgendwann höflich und zuvorkommend. Er genoss ein wenig der Ablenkung, auch wenn das höfische Parkett nicht seine natürliche Umgebung war. Er ließ die Musik hinter sich und tauschte sie gegen die Stille des fallenden Schnees. Er würde bald zu Bett. Die Nacht war lang gewesen und der Salubri fühlte sich müde. So viel war in den letzten Monaten geschehen, und Leif wusste, er war erschöpft.
Der nächste Tag
Zum ersten Mal seit langem hatte es aufgehört zu schneien. Als Leif das Haus verließ konnte er überall die Spuren von Schneeballschlachten und Schlittenfahrten erkennen. Kräftige Hände hatten die Straßen freigeräumt und neues Feuerholz ins warme Innere getragen. Schneemänner standen an jeder Hausecke und hier und da war ein Licht in einem der Fenster zu erkennen. Wenn Leif es grob im Kopf durchging musste vor einigen Tagen der zweite Advent gewesen sein.
Er fand den Weg zum neuen Dom ohne Umschweife. Das hohe Gebäude war von allen Seiten der Stadt gut sichtbar und durch seine Ausmaße ein wahrhaft göttliches Bauwerk. Der Stephansdom war bereits zweihundert Jahre alt, wenn sich Leif recht erinnerte.
Er fand das Goldviertel und die Apotheke, von der der Fremde gesprochen hatte.
Schließlich, nach kurzem Nachfragen bei einer emsigen Hausfrau, die die Nachttöpfe auf die Straße entleerte, um dann rasch wieder ins Innere zu gelangen, erhielt er die entscheidende Information: Sie deutete auf ein Anwesen an der Westseite
Leif zog seinen alten, schwarzen Wollmantel tiefer ins Gesicht und schaute sich in der verschneiten Stadt um. Der viele Schnee hatte etwas Beschauliches und schließlich fand Leif sein Ziel. Mit fester Hand klopfte er an die Vordertür des Hauses der Anna von Eschenbach.
Es dauerte einige Zeit bis geöffnet wurde. Eine alte Frau schob die Tür einen Spalt weit auf und streckte den Kopf heraus. Mit einem herzlichen Lächeln, dem einige Zähne fehlten, öffnete sie. „Ihr müsst der junge Herr sein, von dem die Herrschaften gesprochen haben. Kommt doch herein. Bei dieser Kälte holt man sich da draußen ja den Tod. Ihr Armer seid ja schon ganz blau um die Nase. Ich bin Lena.“ Sie stapfte, in ein dickes Schultertuch gewickelt, vor ihm her und führte ihn durch einen Hof ins Innere des Gebäudes. Ganz offensichtlich, das erkannte er, handelte es sich bei dem Haus um eine Schneiderei. Überall waren Schnittmuster ausgelegt, halb fertige Stücke hingen an Bügeln, und Stoffballen in blassen und ab und an auch leuchtenden Farben waren in die Ecken gestapelt.
Sie blieb an einer Treppe stehen. „Geht nur nach oben, junger Mann. Unser Gast wurde im oberen Stockwerk einquartiert. Ihr könnt ihn nicht verfehlen. Leider ist unsere Frau von Eschenbach derweil außer Haus, sonst hätte ich euch selbstverständlich zu ihr geführt. Wenn ihr etwas wünscht, dann müsst ihr es mich leider später wissen lassen. Ich komm mit meinen alten Knochen nicht die Treppen hinauf. Aber nichts destotrotz bin ich immer noch in der Lage einen formidablen Glühwein zu machen. Wollt ihr? Das ist das Beste gegen die Kälte da draußen.“
Leif lächelte und verbeugte sich artig vor der alten Frau. "Habt Dank. Die Wärme eurer Stube ist mehr als willkommen. Es eilt nicht mit dem Wein, ich werde erst einmal den Herren Trajan begrüßen." Der Salubri zog die Kapuze zurück. Die vielen kleinen Schneeflocken in seinem dunklen Haar begannen in dem warmen Zimmer zu schmelzen. Er strich sich ein wenig seines nassen Haares aus dem Gesicht, während er sich in der Stube umsah und die feinen Stoffe und Muster bewunderte. Dann ging er die Treppe hinauf.
Im oberen Teil befand sich offensichtlich ein Wohnbereich. Weiche Teppiche waren ausgelegt, die Wände mit Holzpaneelen verziert. Es war nicht schwer den Gast des Hauses ausfindig zu machen. Die Tür zu einem gemütlichen Wohnzimmer stand offen und der Mann, der sich tags zuvor als Trajan vorgestellt hatte, kam ihm bereits entgegen. Eine kurze Verbeugung gebot die Höflichkeit, dann deutete er einladend aufs Innere und ließ Leif eintreten. Auch in diesem Zimmer war ein Kamin zu erkennen, der jedoch von allen Seiten umschlossen war. Einige Kerzen hinter gläsernen Wandschirmen spendeten Licht.
"Herr von Vetera." Leif erwiderte die Verbeugung seines Gegenübers. "Es tut mir leid, dass ich eurer Gastgeberin nicht meine Aufwartung machen kann, sollte ich sie nicht mehr sehen dann richtet ihr bitte meinen Dank aus." Er lächelte trat in den Raum.
Sein Gegenüber lächelte leicht. „Oh, das werde ich, das werde ich. Sie ist eine interessante Persönlichkeit, aber viel beschäftigt.“ Er schloss die Tür hinter sich. Leif konnte auf Anhieb erkennen, dass es von draußen nicht möglich sein würde auch nur ein Wort hier drin zu verstehen. Die Tür war aus schwerem Holz und interessanterweise mit Stoff ausgekleidet, der Geräusche verschluckte. Der hochgewachsene Mann bot Leif einen gemütlichen Sessel an und nahm selbst in der Nähe des Kamins Platz. „Es freut mich, dass ihr Zeit gefunden habt, Leif. Wir alle sind viel beschäftigte Gestalten und obwohl uns doch die Ewigkeit offen stehen könnte, ständig in Eile. Das Gespräch mit euch war ausgesprochen unterhaltsam. Selten kommt man dazu sich über alte Clans und ihre Feinde auszutauschen ohne dass die Gemüter überkochen und gleich Stellung beziehen.“
"Ich habe das Gespräch mit euch auch genossen, Trajan von Vetera." Leif hatte es sich in dem gemütlichen Sessel bequem gemacht und lauschte seinem Gegenüber. "Man mag meinen, Zeit ist relativ für die Unsterblichen, aber wie ihr es bereits festgestellt habt, sind viele von uns immer auf der Flucht." Leif lauschte dem Knacken des Kaminfeuers und sog den Duft von brennendem Baumharz ein. "Die verschiedenen Clans der Nacht sind im Konflikt, miteinander und untereinander und das merkt man auch an den kainitischen Höfen." Leif schwieg für einen Moment. "Sagt, was führt euch nach Mainz in diesen Nächten. Die Anwesenheit der Lehen des schwarzen Kreuzes?"
Etwas gedankenverloren sah der braunhaarige Mann zum Fenster hinaus. „Ja, manche sind immer auf der Flucht, vor der Zeit, ihrem Schicksal oder vor Feinden… Was mich nach Mainz getrieben hat? Nun ja. Ich habe mich einige Jahrzehnte in den südlichen Ländern aufgehalten. Aber auch dort wandeln sich die Zeiten für uns. Ich spiele mit dem Gedanken in den nächsten Jahren nach England zu wandern. Derzeit halte ich mich in Mainz auf wegen den Lehen des Schwarzen Kreuzes, das ist wahr. Nirgendwo als am Hof treffen so viele Kainiten aufeinander und man erfährt in so kurzer Zeit über das, was sich zugetragen hat und was sich noch zutragen wird. Mitunter trifft man ein altbekanntes Gesicht, mitunter ein interessantes Neues.“ Der Fremde musterte Leif und in diesem Moment fiel Leif auf, was ihn die ganze Zeit unbewusst verwirrt hatte: Sein Gegenüber blinzelte. Der braunhaarige Mann hob erneut zu sprechen an. „Der eigentliche Grund, der mich in die Lehen des schwarzen Kreuzes geführt hat, seid ihr.“