Florine’s gleichmäßige Schritte ließen den Schnee unter ihren Ledersohlen knirschen. Sie war nicht lange unterwegs gewesen und dennoch erschöpft. Bis zu den Knien ging ihr die weiße Flut, während der schneidend-kalte Wind um sie herum heulte. Zum Glück hatte sie ihr Ziel fast erreicht, während sie vergeblich versuchte die feuerroten Haarsträhnen einzufangen, die der Wind gelockert hatte. Die junge Frau könnte das Meer riechen und hören, bevor sie es schließlich in all seiner Pracht erblickte. Die Wellen brachen sich wild an dem kleinen Strand und der vom Wind aufgetürmte Schnee wirkte im sanften Licht der untergehenden Sonne wie Dünen aus dem weißesten Sand, auch wenn die eiskalte Luft jede Illusion eines heißen Sommertages heulend mit sich fortriss. Florine verharrte einen Moment über diesen Anblick. Sie hatte das Meer immer geliebt. Der endlose, blaue Horizont und das Geräusch der Brandung - nie hätte sie das Bild vergessen können, als sie das erste Mal mit ihrem Vater nach Bordeaux gereist war. In einem anderen Leben. Einem Leben, dass nicht verflucht war.
Die junge Frau schüttelte energisch den Kopf, ganz so als wollte sie einen bösen Traum vertreiben und mit Überzeugung kämpfte sie sich durch die Schneeverwehungen hinunter zum Strand. Ihr Atem bildete weiße Wölkchen, die sich in der zunehmenden Dunkelheit verloren. Ohne einen weiteren Gedanken fiel sie kurz vor der Brandung auf die Knie. Ob aus Erleichterung oder Erschöpfung wusste sie nicht genau. Sie hatte ihr Ziel erreicht, dass war alles was zählte. Florine blickte in den grauen Himmel und begann leise zu beten um Zweifel und Furcht zu vertreiben, die langsam in ihr Herz krochen. Sie hatte sich entschlossen eine große Sünde zu begehen, dennoch brannte die Hoffnung, dass Gott ihr diese vergeben würde hell wie eine Kerze in der dunkelsten Nacht. Ihr Platz war nicht hier. Sie hatte versucht eine Bestimmung in dieser neuen Welt zu finden, aber es war der Versuch einer Närrin gewesen. Nein, nicht der Versuch einer Närrin, sondern der eines Monsters. Eine groteske Existenz war sie, erweckt durch höllische Zauber, eine lebende Tote, wandernd durch eine Zeit die nicht die ihre war. Auch Lucien hatte diese dunkle Wahrheit gesehen - trotz seines stoischen Schweigens. Ihr Lucien, ihr Hauptmann der nicht mehr der ihre war. Sie hatte die Zweifel in seinem Blick gesehen. Den Unglauben, sobald er sie ansah und das Zögern, wenn er sie berührte. Ein Wesen wie sie gehörte nicht hierher. Diese Wahrheit war in ihr gewachsen wie ein Samen, hatte in ihrer eigenen Verwirrung, in ihren Fragen fruchtbaren Boden gefunden und irgendwann die bitteren Früchte der Erkenntnis getragen. Sie war ein Monster. Verbannt und verstoßen aus dem Himmel, verdammt von einem Dämon zu einem neuen, unnatürlichen Leben.
Der Allmächtige würde ihr verzeihen. Er würde ihr wieder einen Platz im Paradies gewähren, da war sie sich sicher, solange sie die gestohlene Zeit, dieses gestohlene Leben nur aufgab. Florine spürte wie heiße Tränen an ihren Wangen hinunterliefen. Lucien. Ihr schöner, starker Bandit. Die plötzlichen Emotionen, die mit der Erinnerung kamen, peinigten sie bis ins Mark. Es war richtig gewesen ihn freizugeben, die Worte niederzuschreiben, die er hören musste, um sich nicht mehr für sie verantwortlich zu fühlen. Ein Tränenschleier trübte ihren Blick, den sie energisch fortzuwischen versuchte, so wie all die bittersüßen Erinnerungen.
Es war an der Zeit. Jetzt galt es zu handeln. Das letzte Licht des Tages war beinahe komplett der beginnenden Winternacht gewichen und Florine hatte Angst das der Mut sie im letzten Moment doch verlassen würde, sollte sie noch länger zögern. Mond und Sterne hatte das graue Zwielicht inzwischen abgelöst, während sie ihren Mantel ablegte und die gefütterten Lederstiefel auszog. Florine’s ebenmäßige Zähne klapperten unkontrolliert, als sie die ersten Schritte auf die Wellen zuging.
...Es...war...so...kalt...Sie zwang sich weiterzugehen bis sie den Rand der Brandung erreichte. Da war das Meer und genauso wie Flut zurückwich, schwand auch ihre Angst. Das war der Weg, den sie gehen musste und unter Auferbietung ihrer gesamten Willenskraft, führten sie ihre Beine weiter in das eisige Nass. Ein heller Schrei entwich ihr als die erste Welle ihre nackten Füße berührte, aber sie ging weiter. Der nächste Wasserschwall reichte ihr bis zur Brust und raubte ihr den Atem, die dritte Welle warf sie in das flache Wasser, während der nächste Stoß ihr alle Sinne zu überladen schien. Sie zitterte unkontrolliert.
...War...so...kalt... Florine schnappte nach Luft und hustete schwer. Ihre Muskeln verkrampften. Sie konnte sich kaum bewegen. Dennoch schaffte sie es irgendwie sich zum Strand zurückzuschleppen. Langsam auf alle Vieren spürte sie, wie ihr Körper von der Kälte eingenommen wurde. Die Heiler im Brügger Hospital hatten gesagt, Kälte wäre ein gnädiger Tod. Irgendwann würde man einfach einschlafen und im Himmel wieder aufwachen. Als sie das gehört hatte, wusste Florine, dass sie auch so gehen wollte, so wie die vielen Soldaten und Flüchtlinge, die im Bürgerkrieg erfroren waren. Einfach am Meer einschlafen, die gleichmäßig-schöne Musik der Wellen im Ohr. Trotz dieser Aussicht war das Zittern im Moment unerträglich. Unter Schmerzen drehte sich Florine auf den Rücken. Sie wollte den Himmel sehen. Ihr volles, rotes Haar war nass und breitete sich auf dem eisigen Untergrund aus wie Blut, während der Mond und abertausenden von Sternen am Himmel leuchteten.
...So...kalt...Die Zeit begann jegliche Bedeutung zu verlieren. Florine wusste nicht mehr wie lange sie in der Sand- und Schneebedeckten Brandung lag, aber ein seltsamer Frieden erfasste sie irgendwann. Alles begann zu verschwimmen, lediglich das Krächzen eines Raben durchbrach die Stille.
'Schwarzer Bote, bist du hier damit ich nicht allein sein muss?' Florines Gedanken fühlten sich an wie zäher Sirup der langsam dahinfloss.
...Kalt...Florine hörte das ebenmäßige Rauschen der Wellen - oder war es gar nicht ihr geliebtes Meer? Es klang beinahe wie Gesang. Aber sie war doch alleine gewesen? War sie es vielleicht selbst? Sang sie etwa diese fröhliche, warme Melodie? Das Lied war so wunderschön, sie fror nicht einmal mehr.
...