Vampire: Die Maskerade


Eine Welt der Dunkelheit
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 Betreff des Beitrags: Lehre mich die Kunst des Vergessens
BeitragVerfasst: So 26. Jul 2015, 10:45 
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Gretlin ging durch den dunklen, vor ihr liegenden Tunnel. Sie zog den Kopf ein, hatte das Gefühl, dass sich die Wände um sie herum immer näher auf sie zu bewegten. Angst kroch in ihr hoch und ihre Hände schwitzten. Irgendetwas daran erschien ihr für einen Sekundenbruchteil falsch.
Sie blickte zurück: Nichts als Schwärze. Irgendwo weit vor sich konnte sie ein schwaches Licht erkennen. Sie ging auf die Knie und kroch weiter durch den Tunnel.
Die Steine der Mauern rückten näher und näher und Panik stieg in Gretlin auf. Ihr Herz raste während sie versuchte schneller und schneller zu kriechen. Mit letzter Kraft stieß sie sich ab und landete in weichem Gras. Sie drehte sich auf den Rücken, sah zurück. Von dem Spalt aus dem sie entkommen war, war nichts mehr zu erkennen. Vor ihr erhob sich eine hohe Felswand. Sie holte tief Luft, wischte die verschmutzten Hände am Gras ab. Über ihr schien warm die Sonne durch ein grünes Blätterdach, malte helle Flecken auf die moosige Wiese. Sie ließ sich erschöpft ins Gras fallen und schloss die Augen.

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Gretlin hatte das Gefühl mehrere Minuten so dagelegen zu haben als sich plötzlich ein Schatten vor ihre geschlossenen Augen legte. Sie blinzelte und erkannte eine Silhouette, die sich dunkel vor dem wolkenlosen Himmel abhob. Die Stimme ließ sie trotz des amüsierten Klangs zusammen zucken. „Wie lange möchtest du denn noch da liegen, Gretlin?“
Die braunhaarige Frau fuhr hoch, wich zurück, so dass sie mit dem Rücken zur Wand gepresst kauerte: Sebastian von Augsburg, der Hexer. Sie suchte nach etwas, das sie als Waffe verwenden mochte, konnte aber in dem perfekten weichen Gras nichts entdecken.
Enttäuschung breitete sich auf den Zügen des Mannes aus und auch er trat einen Schritt zurück. „Du scheinst dich zu einer wahren Bewohnerin von Brügge zu entwickeln: keiner von denen ist erbaut darüber, wenn man in seinen Träumen auftaucht.“
Gretlin sah sich um, musterte das, was sie sah neu und erkannte einen Fehler in ihrer Umgebung, den sie nicht genau benennen, aber um so besser spüren konnte. Zwar erschien alles real, aber es war zu perfekt, nur eine Vorstellung von dem, was wirklich war. Die Farben etwas kräftiger, die Gerüche intensiver…
„Du bist der Feind!“ Ihre Stimme war leise, zögernd.
„Bin ich das? Warum? Weil mich manche so nennen? Wie unterscheidest du Freund und Feind, Gretlin?“
Sie überlegte, suchte nach etwas in ihrem Inneren, was sich schwer finden ließ. Dann hatte sie die Erinnerung greifbar. „Weil du der Anführer der Hexer bist. Ihr habt mich im Turm verfolgt, mich gefangen genommen, wolltet mich nach Rotterdam in irgendein Gildenhaus ausliefern, foltern…“
Sebastian seufzte. „Gretlin? Du weißt doch am besten, dass manchmal mehr in den Taten eines Menschen steckt als man auf den ersten Blick erkennen mag. Du öffnest die Seiten eines Buches und weißt sofort, dass für dich mehr darin zu lesen ist als der Inhalt der Zeilen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.
Gretlin zögerte erneut, griff dann jedoch danach und ließ sich aufhelfen. „Bist du hier um in meinen Träumen zu spionieren, die Erinnerungen zu finden, die dein Clan sucht?“
Sebastian sah sie nachdenklich an. „Ein interessanter Gedanke, aber nein. Ich würde sagen, das habe ich nicht nötig.“
„Du warst in den Träumen der Brügger?“ Gretlin versuchte sich zu erinnern, von wem sie sprachen, aber sie wusste es nicht, fand keine Erinnerungen zu dem Begriff.
Sebastian nickte und mit einer kurzen Handbewegung veränderte sich die Umgebung. Sie waren auf einer kleinen Waldlichtung, vor ihnen in einiger Entfernung sah sie zwei Männer, die an dessen Ufer knieten, einen Spiegel zwischen sich. Sie näherte sich zögernd und Sebastian folgte. Sie erkannte den Nordmann, Leif, und daneben den Hexer, dessen realer wirkendes Ebenbild jetzt gleichzeitig an ihrer Seite stand. Obwohl sie neben den beiden verharrte, wurde sie nicht bemerkt. Sie griff nach der Schulter des Heilers doch ihre Hand fuhr durch diese wie durch Luft.
„Das alles hier ist Vergangenheit. Ein vergangener Traum“, fügte Sebastian erklärend hinzu.
Die Frau beugte sich zu den beiden Traumgestalten hinab, blickte etwas irritiert von einem zum anderen. „Motus incorporeus? Ihr führt gemeinsam das Ritual der körperlosen Bewegung durch?“
Sebastian nickte, presste für einen kurzen Augenblick die Lippen aufeinander.
Gretlin lauschte den gemurmelten Worten von Leif. „Ich dachte immer, man müsse das Pater noster in Griechisch oder Latein rezitieren…“
Sebastian schüttelte den Kopf. „Hab ich auch mal vermutet, aber es müssen die oft gesprochenen Worte sein, die einem selbst wichtig sind und für meinen Freund hier…“ Er deutete mit einer Handbewegung zu dem Nordmann und seine Stimme klang bemüht beherrscht als er weiter sprach. „… sind das nun einmal die Worte seiner alten Religion.“
Gretlin wollte ansetzen um zu sprechen aber der Mann ihr Gegenüber kam ihr zuvor als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Heute ist nicht der richtige Zeitpunkt um über Leif, mich und Abkommen zu sprechen. Sollten wir uns in einer anderen Nacht wieder treffen, können wir das vielleicht tun.“
„Und wenn wir uns dann mit stählernen Klingen Auge in Auge gegenüberstehen?“
Sebastians Gesicht wurde von einem Schmunzeln erhellt. „Ich bin ein miserabler Schwertkämpfer und ich schätze mal, wir hätten uns bereits selbst schwer verwundet bevor sich unsere Klingen ein einziges Mal gekreuzt hätten.“ Dann wurde er wieder ernst. „Ich hatte immer geplant, mich von Lucien richten zu lassen. Wenn die Zeit soweit ist…“
„Lucien?“ Gretlin versuchte ein Gesicht zu dem Namen zu finden, aber es gelang ihr nicht. Sebastian sah ihre Verwunderung und innerhalb eines Augenblicks verschwamm das Bild um sie herum und machte einem anderen Platz. Sie waren in einer Höhle, wenige Meter entfernt lag eine Fackel auf dem Boden und tauchte zwei Männer in schwaches rotes Licht. Der eine war wieder ein Ebenbild von Sebastian, der andere war hochgewachsen und sah wild aus, als bevorzuge er den Wald jeglicher Zivilisation: Lucien, der Wolf. Gretlin trat näher, stand neben den beiden Traumgestalten und beobachtete wie Sebastian dem anderen einen kleinen weißen Gegenstand in die Handfläche drückte. Die Männer redeten über jemanden namens Jakob und sie erkannte eine seltsame Resignation in den Augen des Gangrel, Wut, Trauer und Hass auf den Zügen von Sebastian.
Sie blickte zu Sebastian, der neben ihr stand und sie aufmerksam musterte. „Du willst dich von ihm vernichten lassen? Planst deinen Tod durch seine Hand?“
Der Hexer sah zu dem leicht durchsichtigen Gangrel und verschränkte die Hände vor der Brust. „Ich dachte einst, es wäre gut, alles in unserer Existenz zu durchplanen. Dann wäre nichts in der Lage einen zu überraschen. Aber ich musste erkennen, dass das Leben uns in jeder einzelnen Nacht einen Strich durch die Rechnung macht.“
Die braunhaarige Frau trat noch eine Schritt näher auf Lucien zu, der den weißen Gegenstand, einen Zahn, an den Hexer zurück gab. „Lucien ist ein guter Mann. Etwas ruppig und vorschnell, aber mit dem Herz am rechten Fleck.“
Sebastian nickte mit Bedauern im Blick. „Ja, ich beginne zu befürchten, dass das wirklich so ist.“ Er schüttelte den Kopf wie um sich selbst daran zu erinnern, dass es anderes zu tun gab. Er fuhr ein Mal mit der Hand durch die Luft als würde er eine Tafel wischen und wieder verschwamm das Bild.

Vor ihnen an einem Berghang erkannte Gretlin eine Burg, trutzig, schwer bewacht mit mächtigen Mauern, einem großen runden Turm.

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In der Tiefe im Nebel, an einen breiten Strom, der sich durch ein enges Tal wandt, erkannte sie eine kleine Stadt mit weiß getünchten Fachwerkhäusern und Schieferdächern. Auch wenn ihr der Name der Burg und der Stadt nicht einfiel wusste Gretlin, dass sie die engen Gassen blind hätte abgehen können. Sie kannte jeden Stein der Burg, wusste wo in der Küche die Lebensmittel gelagert wurden, wo die Pferde im Stall ihren Hafer fraßen und wo die Rüstungen der Wachmannschaft verstaut waren. Die junge Frau spürte wie ihr Herz schneller schlug.
Sebastian sah sie an. „Ich war erst ein Mal hier und das ist wenige Jahre her. Das hier ist meine Erinnerung, die dir nicht viel nützt. Vielleicht solltest du versuchen dich selbst zu erinnern.“ Er überlegte einen Moment. „1132, 1133 soll ein bitterkalter Winter gewesen sein. Einen wie man ihn viele Jahrzehnte nicht erlebt. Selbst der Rhein…“ Er deutete zu dem schnell dahin fließenden Strom. „… soll eingefroren gewesen sein, so dass man über die Eisschollen zum anderen Ufer gelangen konnte.“
Gretlin blickte zu dem braunhaarigen Hexer und bemerkte die Schneeflocken, die plötzlich in der Luft schwebten.

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Ein grauer Himmel verhüllte die Sonne, Berge von Schnee türmten sich um sie herum auf und ließen die Äste der Bäume unter ihrem Gewicht nach unten sinken oder brechen. Es war absolut still um sie herum. Der Fluss lag als weißes Band in der Tiefe. Ein wissendes Lächeln breitete sich auf Sebastians Zügen aus. „Ich dachte mir doch, dass es dir gelingt.“ Er atmete tief ein, stieß eine weiße Atemwolke aus und rieb sich die Finger gegen die eisige Kälte. „Das hier ist deine Erinnerung. Ich werde auf dich warten“
Gretlin zögerte, sah noch einmal zu dem Tremere zurück. Was plante er? Was wollte er mit ihren Erinnerungen? Sie schluckte. Dann schritt sie auf die Burg zu.

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Verfasst: So 26. Jul 2015, 10:45 


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BeitragVerfasst: So 26. Jul 2015, 16:42 
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Winter 1133


Das achtjährige Mädchen schritt durch den Wald, sah sich kurz nach ihrem Verfolger um, der laut fluchend hinter ihr her rannte, jedoch ständig im Dickicht von Dornenranken, Zweigen und Ästen hängen blieb. „Margarethe. Bleibt augenblicklich stehen!“ Gretlin dachte nicht daran sondern sputete sich. Natürlich konnte sie den Wachmann, der heute für ihre Bewachung abgestellt worden war, nicht abschütteln, da er jederzeit ihre Spuren im Schnee finden konnte, aber dennoch musste sie es ihm ja nicht zu leicht machen. Vor sich sah sie die Abdrücke von Stiefeln und sie beeilte sich diesen zu folgen.
Schließlich sah sie den in dicke Kleidung gehüllten, rothaarigen Jungen auf der Hügelkuppe vor sich am Waldrand. Er grinste sie an als sie sich, mit Blättern und Reisig im zerzausten Haar, durch das Gestrüpp zu ihm durchkämpfte. „Ich hab schon gedacht, du kommst gar nicht mehr. Wendel hätt‘ uns fast gekriegt.“ Er lachte und zeigte auf den hölzernen Schlitten an seiner Seite. Dann reichte er ihr gespielt galant, wie er es mal bei den edlen Fürsten gesehen hatte, die Hand. „Herrin? Darf ich bitten?“ Gretlin setzte sich auf den Schlitten und der Junge, der wohl um die zwei Jahre älter und ein Stück größer war als sie rutschte nach.
Hinter ihnen brach Wendel gerade durch das Dickicht. „Friedrich? Ihr werdet es nicht wagen!“
Der Junge sah zurück. „Was werde ich nicht wagen?“ Mit diesen Worten stieß er sich vom Boden ab und der Schlitten gewann an Fahrt.
Nichtsdestotrotz holte der Wachmann auf. Seine Worte waren wütend. „Ihr seid genauso stur und eigensinnig wie euer vom König verfolgter Vater, Friedrich. Wenn ihr nicht augenblicklich mit eurer Base vom Schlitten steigt, verrat ich euch an den Fürsten.“
Gretlin grinste zurück. „Du verrätst gar nichts an meinen Vater, sonst verrat ich ihm, was ihr letztens mit der verheirateten obersten Kammerzofe meiner Mutter in der Vorratskammer getrieben habt.“
Wendel verharrte mitten in der Bewegung als ihm bewusst wurde, dass er die Kinder nicht mehr würde einholen können.
Gretlin spürte den eisigen Fahrtwind im Gesicht, die Hände ihres Vetters, der sie fest hielt und den Schlitten lenkte. Sie genoss die rasende Geschwindigkeit, lachte laut auf und ließ einen kurzen Jubelschrei durch die entlaubten Weinberge zu beiden Seiten gellen. Dann bremste der Junge hinter ihr plötzlich bevor sie einen steilen Felshang hinunter fallen konnten. Gretlin sah in die Tiefe und ihr schwindelte. Friedrich jedoch lachte. „Den haben wir endgültig abgehängt!“
Das Mädchen sah ihren Vetter nachdenklich an. „Du? Warum verfolgt König Lothar deinen Vater eigentlich?“
Friedrich griff nach dem Schlitten, befreite ihn von dicken Eisklumpen. „Mein Vater Friedrich und unser Onkel Konrad haben König Lothar den Lehnseid verweigert. Eigentlich sind die beiden und nicht Lothar die Erben des alten Königs Heinrich V. Dann hat Lothar auch noch gefordert, dass sie ihm ihre Gebiete, die sie rechtmäßig geerbt haben, zurückgeben sollen. Das kann kein Ehrenmann auf sich beruhen lassen.“
„Aber jetzt kämpfen Konrad und dein Vater ständig gegen ihn. Das ist gefährlich. Dein Vater hat ein Auge im Kampf gegen ihn verloren.“
Ein wütender Gesichtsausdruck legte sich auf Friedrichs Züge. „Ja. Sollten die beiden je siegen kann nur noch Konrad den Thron besteigen, da er im Gegensatz zu meinem Vater körperlich unversehrt ist.“
Gretlins Stimme war leise. „Du? Mir wär’s lieber die würden alle mit dem Kämpfen aufhören.“
Friedrich schüttelte den Kopf. „Du bist noch zu klein. Das verstehst du noch nicht. Wenn sie nicht kämpfen bekommen sie alles weggenommen. Ein Mann muss für das, was ihm wichtig ist kämpfen. Deine Mutter, Tante Getrud und du, ihr könnt brav im Turm sitzen, sticken, Bücher lesen, während wir Männer dafür sorgen, dass es euch gut geht.“
Gretlin griff nach einer Hand voll Schnee und warf sie ihm ins Gesicht. „Hättest du wohl gern, was?“
Er nahm die Einladung zur Schneeballschlacht sofort auf. „Männer mögen es halt, wenn zu Hause brav jemand auf sie wartet, wenn sie heim kommen.“ Er streckte ihr die Zunge heraus.

Es war früher Abend. Die Kinder waren zum Zeitpunkt des Sonnenuntergangs auf der Burg eingelangt und niemand außer Wendel, der es tatsächlich nicht gewagt hatte über das Verschwinden der beiden zu berichten, hatte sei vermisst. Sie durchschritten das Burgtor und gelangten durch den Innenhof in den Wohnbereich. Überall lag die Kälte wie ein schwerer eisiger Umhang auf den Schultern der Bewohner und trieb sie in die wenigen beheizten Räume

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Ihre Mutter war wütend als sie ihre Tochter in den komplett durchnässten Kleidern sah, schollt sie, doch vergaß sie wie es ihre Art war, schon kurze Zeit später wieder den Grund des Grolles und präsentierte ihr noch vor dem Abendmahl stolz eine edle Bibel, die Gretlins Vater einem fahrenden Mönch abgekauft hatte.

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Gretlins Mutter, die, wie Friedrich bereits angedeutet hatte, selten ihre Gemächer verließ, hatte so wie ihre Tochter auch, eine Schwäche für das geschriebene Wort und nannte einige schöne Werke ihr Eigen.
Gretlin nahm das Buch in den Falten ihres Rockes mit zu Tisch, verschlang im Beisein der Eltern und des Gefolges kurz etwas Brot und Fleisch und setzte sich schließlich einige Meter entfernt vom offenen Kamin in den schwachen Feuerschein um besser lesen zu können.
Kurz warf sie einen Blick zur Tafel der Eltern. Dies war ein kleiner, unwichtiger Fürstensitz, nicht der königliche Hof. Niemand scherte sich um das Benehmen eines achtjährigen Mädchens.

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Sie rutschte mit dem Rücken an die Wand, schlug den ledernen Einband auf, spürte als sie mit dem Finger über die dünnen Seiten strich, die Essenz des Buches als wäre es ein schwaches Ein- und Ausatmen. Das Buch war wunderschön gearbeitet, die Buchstaben jedoch schwer zu entziffern und der Text in Latein. Angestrengt mühte sie sich mit den einzelnen Buchstaben ab, versuchte kurze Textpassagen laut zu lesen um den Worten vielleicht eine Bedeutung abgewinnen zu können.
Ihr Vetter Friedrich beugte sich zu ihr hinab. Er grinste. „Na, hast du wieder ein Buch in die Finger bekommen können? Du klingst wie einer der Pfaffen in der Sonntagsmesse.“ Er sank neben ihr zu Boden, langte mit den vom Spanferkel fettigen Fingern nach den Seiten doch Gretlin entzog ihm entrüstet das Buch. „Nein. Das ist kostbar.“
Friedrich schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Das ist nur ein Buch. Ein paar schlaue Leute können damit vielleicht was anfangen, aber ein normaler Mensch benötigt sowas nicht. Ich verlass mich auf meinen Schwertarm, meinen Bogen, mein Pferd und meine Gefolgsleute.“
Gretlin strich über das Papier. „Soll ich dir zeigen, wie das Lesen geht? Es ist gar nicht so schwer?“
Der rothaarige Junge lachte. „Gar nicht so schwer? Soll das ein Witz sein? Ich sehe doch, wie du dich hier Stunde um Stunde abplagst! Nein Danke.“
„Aber vielleicht musst du mal ein Schreiben aufsetzen oder jemand wichtiges schickt dir eine bedeutsame Nachricht?“ Gretlins Stimme war zögernd.
„Für sowas kann ein Fürst seine Berater zu Hilfe nehmen. Das ist schließlich deren Aufgabe. Und, eins darf man nicht vergessen.“ Er grinste wieder. „Ich hab ja dich! Du liest, schreibst, übersetzt. Und würdest mir immer mit Rat und Tat zur Seite stehen. Oder?“
Ihre Antwort kam ohne Zögern. „Immer“
Friedrich sah zu dem Buch hinunter, lehnte dann den Kopf nach hinten an die Wand. Seine Worte klangen bestimmt „Lies mir vor!“
Gretlin sah noch einmal über die Zeilen. „et egressus est vir spurius de castris Philisthinorum nomine Goliath de Geth altitudinis sex cubitorum et palmo”
Ihr Vetter stieß sie in die Seite. „Hey. Nicht in Latein. Das versteh ich nicht.“
Sie holte tief Luft, zögerte: „Da trat aus den Lagern der Philister ein Riese mit Namen Goliath von Gath, sechs Ellen und eine Handbreit hoch.“
Friedrich neben ihr schloss die Augen. „Das klingt vielversprechend, nach einer spannenden Geschichte. Lies weiter!“

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BeitragVerfasst: Di 28. Jul 2015, 23:23 
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Gretlin blinzelte, der Raum verschwamm vor ihren Augen und als sie wieder etwas erkennen konnte fand sie sich auf einer an das Ufer eines Flusses grenzenden Wiese wieder

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Am anderen Ufer erhob sich eine mächtige Festung zu der man über eine Brücke gelangen konnte. Sie sah sich um, wusste, dass sie den Hexer irgendwo erkennen würde. Er saß auf einem der großen Wackersteine wenige Meter vom Wasser entfernt und blickte zur gegenüberliegenden Seite.
Gretlin verharrte einen Moment, dann ging sie mit bemüht festem Schritt auf ihn zu. „Und? Hat euch die Erinnerung irgendetwas gebracht? Seid ihr jetzt schlauer?“ Ihre Stimme war bissig.
Der Hexer zuckte kaum merklich zusammen und wandte den Kopf. „Nichts, was ich nicht schon gewusst, oder geahnt hätte.“
Sie stieß ihn voller Wucht an und ein Gegenstand, den er in der Hand gehalten hatte viel zu Boden: ein flacher grauer Kiesel. „Hört auf in meinem Kopf herum zu spuken! Lasst mich aus diesem Traum raus!“
Sebastian schien einen Moment zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf. „Jeder, der zum ersten Mal in einem solchen Traum ist muss selbst seinen Weg herausfinden.“
Ihre Stimme war eisig. „Und wenn ich dich hier im Traum töten würde?“
Der braunhaarige Mann seufzte. „Dann würde ich erwachen und augenblicklich in Raserei verfallen. Wahrscheinlich zwei oder drei Unschuldige töten und aussaugen bevor der Durst gestillt wäre. Wundervolle Aussichten. Ich wäre dir sehr dankbar…“
Gretlin hörte den Sarkasmus. „Soll das eine Drohung sein?“
„Gretlin? Hör zu!“ Er deutete mit einer Geste zum Horizont. „Die Sonne wird bald untergehen. Ich bleibe bis zum Sonnenuntergang des nächsten Tages. Dann verschwinde ich und du hast deine Ruhe. Einverstanden?“
Sie schnaubte verächtlich, nickte dann jedoch. „So sei es.“
Er erhob sich und schritt zur Brücke. Dann deutete er zum gegenüberliegenden Ufer.
"Obwohl nach dem Tod von König Lothar die allgemeine Wahlversammlung zu Pfingsten 1138 nach Mainz einberufen war, hat man bereits am 7. März 1138 in Koblenz unter Leitung des Trierer Erzbischofs mit Beteiligung weniger Fürsten und zweier päpstlicher Legaten Konrad zum König erhoben. Das Wahlgremium hat ausschließlich aus Anhängern Konrads bestanden und da es keine geschriebene Verfassung mit Bestimmungen über die Gültigkeit einer Wahl gegeben hat, kam es in einer solchen Situation nur darauf an, ob sich der Gewählte durchsetzen konnte. Und das konnte dein geschickter Onkel, dem es gelungen war trotz seines Zwists mit Lothar als königstreu dazustehen."

Gretlin sah zur Koblenzer Festung und erinnerte sich.



6. März 1138

Das junge Mädchen stieg vorsichtig hinter den Eltern über die schmale Reling des Kahns. Obwohl es noch immer März war drängten sich die ersten Sonnenstrahlen des Jahres durch die hohen Wolken und tauchten den Rhein, die steilen Hänge, die bewaldeten Gipfel und die beschauliche Stadt in helles weißes Licht. Der Schnee war bereits vor einigen Wochen geschmolzen und hatte die Straßen in morastige Sumpfpfade verwandelt, so dass sich der Vater dazu entschlossen hatte die fünfzig Kilometer flussabwärts mit einem der Rheinschiffe zurück zu legen

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Sie blickte zur Festung. Es würde ein bedeutsamer Tag für die Familie werden, hatte man ihr verkündet, ihr dennoch geheißen bis zum nächsten Tag streng zu schweigen. Sogar die seit zwei Wochen angebrochene Fastenzeit würde für ein großes Festgelage unterbrochen werden. Bei dem Gedanken an gebratenes Schwein, Rüben, Wintersalat und frisch gebackenen Honigkuchen knurrte der Magen der 13 jährigen.
In der Nähe der Anlegestelle waren mehrere Pferde angebunden, die von einem Diener bewacht wurden. Gretlin erkannte ihren Vetter Friedrich, der neben den Tieren an einen Baum lehnte und bei ihrem Anblick mit festem Schritt auf sie zukam. Die halblangen roten Haare erinnerten sie an einen Bronzehelm. Sie versuchte das unziemliche Schmunzeln zu unterdrücken während ihr Vater den jungen Mann an sich drückte und mit ihm den offiziellen Bruderkuss austauschte wie es in Familien üblich war. Anschließend folgte der Handkuss an ihre Mutter, der hochgestellten erwachsenen Frauen vorenthalten war. Schließlich stand er vor ihr und sein Grinsen war Begrüßung genug.
Er half sowohl ihrer Mutter als auch ihr selbst in den Damensattel, dann machte sich die kleine Gesellschaft, gefolgt von wenigen Gefolgsleuten, auf zur Festung.

Überall wuselten geschäftige Diener, die scheinbar ohne Ziel durch das Gemäuer rannten. Die Stallungen schienen aus allen Nähten zu quillen, ebenso wie die Zimmer, die man mit mehreren Gästen gleichzeitig hatte belegen müssen. Auch Gretlin wurde mit mehreren Basen, darunter Friedrichs Schwester Bertha, in ein gemeinsames Gemach einquartiert, das zwar winzig, aber beheizbar, war. Gretlin erkannte die Wappen vieler wichtiger Adelshäuser und zweier Erzbischöfe. Keines der Mädchen wusste näheres und Gretlin platzte schier vor Neugier.

Schließlich war die Nacht heran gebrochen und die Mädchen wurden wie es in der Fastenzeit üblich war ohne Abendbrot zu Bett geschickt. Gretlin knurrte nach wie vor der Magen und hinderte sie am Einschlafen. Durch die mit dicken Fensterläden versperrten Fenster zog der Wind und ließ sie trotz des wärmenden Feuers am anderen Ende des Zimmers frösteln. Plötzlich hörte sie ein leises dumpfes Poltern. Das braunhaarige Mädchen erhob sich so lautlos es ihr möglich war, schritt zum Fenster und lugte vorsichtig durch ein paar Ritzen. Unten erkannte sie eine Gestalt im Dunkeln. Kurz sah sie zu ihren Basen, die soweit sie beurteilen konnte, friedlich schlummerten. Gretlin griff nach ein paar Kleidungsstücken, ein paar Schuhen und einem Mantel, stahl sich klammheimlich aus dem Zimmer und zog leise die Tür hinter sich zu. Wenn eines der Mädchen zum Abort unterwegs war, sollte sie eigentlich eine der Dienerinnen bitten sie zu begleiten, doch sie verzichtete ohne langes Nachdenken auf diese Sicherheitsmaßnahme. Sie warf sich die Kleidung über und hastete die Stufen hinab. Unten im Burghof angekommen wurde sie von kräftigen Händen nach hinten gerissen. Sie unterdrückte mit Mühe einen Schrei, dann drehte der nächtliche Angreifer sie um und schloss sie fest in die Arme. „Gretlin. Ich hab dich schon seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Es tut gut, dass du endlich da bist.“ Er sah sie mit den hellen Augen verschmitzt an und Gretlin erkannte im Licht einer den Hof erleuchtenden Fackel den ersten Schatten eines Barts an seinem Kinn

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„Ich freue mich riesig, dich zu sehen. Vielleicht kannst du mir erzählen, was hier los ist? Die Erwachsenen weigern sich ihr Schweigen zu brechen als hätten sie einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.“ Sie rückten etwas weiter in die Dunkelheit als ein Wachmann oben auf der Burgmauer patrouillierend an ihnen vorüber schritt.
Friedrichs Stimme war dunkler als das letzte Mal als er flüsterte, „Komm mit. Ich will dir was zeigen. Dann erzähl ich dir auch, was ich weiß.“
Er griff nach ihrer Hand und zog sie hinter sich her. Souverän, doch so unbemerkt wie irgendwie möglich ging er durch die Kammern der für ihn vertrauten Festung, schlüpfte irgendwann sogar hinter einen Wandbehang in einen geheimen Gang, der nach einigen Kurven im Beichtstuhl der kleinen Kapelle der Festung endete.

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Friedrich entfernte eine Abdeckung und stand in dem spärlich durch eine einzelne Kerze, das ewige Licht, erhellten Altarraum. Rasch schlug er das Kreuzzeichen als hätte er einen Frevel begangen und Gretlin tat es ihm mit der gleichen Eile nach. Er deutete mit einer ehrfürchtigen Geste zum Altar und trat dann näher. Das Mädchen an seiner Seite folgte.
IN der Mitte der steinernen Altarplatte konnte sie einen im Kerzenlicht schimmernden Gegenstand erkennen, der überall farbige Reflexe warf. Ehrfürchtig trat sie näher. Schließlich erkannte sie worum es sich handelte. Gretlin zog scharf die Luft ein. Auf einem Kissen aus rotem Samt ruhte eine mächtige goldene Krone, über und über geschmückt mit einer Vielzahl von kostbaren Edelsteinen.

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Gretlin streckte vorsichtig die Hand danach aus, zog sie dann jedoch wieder voller Respekt zurück. Friedrich neben ihr war nicht so zögerlich. Er griff nach der Krone, schwenkte sie im Licht der Kerze nach rechts und links, damit das Mädchen sie besser beobachten konnte.
„Siehst du diese Inschrift hier. Du kannst das besser lesen als ich.“
Gretlin beugte sich nach vorne und entzifferte „Chuonradus Dei Gratia Romanoru Imperator Aug, Konrad von Gottes Gnaden Kaiser der Römer und Augustus“. Ihr stockte der Atem.
Ungläubig sah sie ihren Vetter an. „Was bedeutet das, Friedrich?“
Der junge Mann lächelte siegessicher. „Unser Onkel wird morgen zum König gewählt werden. Es ist reine Formsache. Lothar ist tot und hinterlässt keine männlichen Erben. Unsere Familie wurde schon bei der letzten Königswahl übergangen und unser Onkel hat sich in den letzten Jahren als mehr als fähig erwiesen. Leider scheidet mein Vater als Kandidat aus.“ Ein bitterere Zug legte sich kurz über seien Züge, verflog jedoch beim Anblick der glitzernden Krone erneut.
Gretlin stockte der Atem und sie musste sich zwingen tief Luft zu holen. „Konrad wird zum König gewählt?“
Friedrich nickte. „Der Kreis derjenigen, die ihn morgen wählen werden steht treu hinter ihm. Die Krönung selbst wird, wie es Sitte ist, in Aachen stattfinden. Diese Krone wurde extra für unseren Onkel angefertigt. Als Zeichen seiner göttlichen Herrschaft.“
Gretlin streckte die Finger nach einem der roten Edelsteine aus und spürte die glatte, kühle Oberfläche. „Sie ist wunderschön.“
Friedrich sah sie an und schob ihr dann ohne Zögern die Krone aufs Haupt. „Na, Gretlin? Würdest du gerne Königin sein?“
Für einen Moment hatte sie das Gefühl eine Schandtat zu begehen, dann sah sie jedoch den Schalk in den Augen des jungen Mannes, der auf ihre Reaktion wartete und sie musste lachen. „Das Ding ist viel zu schwer. Ich verzichte dankend.“
„Die Bücher, die du immer mit dir rumträgst sind doch viel schwerer.“ Friedrich nahm sie ihr wieder vom Kopf und setzte sie sich selbst auf die roten Haare. „Und? Wie steht sie mir?“
Gretlin grinste. „Perfekt.“ Dann wurde sie jedoch sofort wieder ernst. „Du kannst nicht König werden. Wenn sich deine Worte bestätigen und Onkel Konrad tatsächlich morgen zum König wird… er hat einen Sohn…“
Friedrich lächelte wissend, nahm die Krone wieder ab und legte sie zurück auf den roten Samt. „Ja, und der Kleine ist gerade mal ein Jahr alt. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt? So Gott will…“
Sein Grinsen wirkte wie immer ansteckend auf Gretlin und ihre Antwort folgte prompt. „Amen“
Friedrich drehte sich um und trat wieder in Richtung Beichtstuhl als plötzlich mit einem Ruck die Tür aufgerissen wurde. Alida machte vor Schreck einen Schritt nach hinten und wäre beinahe über einen schweren Teppich gestolpert als sie die dunkle Gestalt erkannte.

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Friedrich griff sie am Arm und hielt sie fest.
Der Mann trat mehrere Schritte auf die beiden zu und als er zu Sprechen ansetzte klang seine Stimme außergewöhnlich melodisch. „Der junge Friedrich? Ihr seid es?“ Er klang alles andere als überrascht. „Ich habe Geräusche vernommen und da musste ich nachsehen. Schließlich ist es meine Aufgabe in diesen Nächten dafür zu sorgen, dass unserem kostbaren Kleinod nichts geschieht. Nicht wahr?“ Er war hoch gewachsen und von schmaler, fast ausgezehrter Statur. Das Haar war kurz geschoren und eine Narbe zog sich über seine linke Wange. Obwohl er sie nicht weiter beachtete fröstelte Gretlin bei seinem Anblick.
Friedrich trat näher auf ihn zu, klopfte ihm jovial auf die Schulter. „Und wie bei allem, was ihr tut habt ihr auch diesmal perfekte Arbeit geleistet. Niemand könnte sich mit diesem Insignium davon schleichen. Ich werde eure Tatkraft meinem Onkel gegenüber erwähnen, werter Freund.“ Gretlin bewunderte die Art und Weise wie ihr Vetter souverän und gekonnt mit dem Gefolgsmann umzugehen vermochte.
Friedrich drehte sich zu ihr und sprach sie mit ihrem Taufnamen an. „Margarethe? Darf ich euch Eberhardt von Katzenelnbogen vorstellen, einen wichtigen Berater meines Onkels? Graf? Dies ist meine Base Margarethe von Stahleck.“
Die dunklen Augen des Mannes musterten sie mit Desinteresse, dann jedoch griff er mit kalten Fingern nach ihrer Hand um den ersten Handkuss zu vollführen, den sie je erhalten sollte. „Es freut mich sehr eure Bekanntschaft zu machen. Friedrich hat viel von euch berichtet und dabei stets in den höchsten Tönen von euch gesprochen.“
Das junge Mädchen sah zu ihrem Vetter. „Hat er das?“ Friedrich grinste nur schulterzuckend. Dann jedoch schien ihm ein Gedanke zu kommen. „Eberhardt? Würdet ihr meiner Nichte und damit unserer ganzen Familie die Ehre erweisen und sie in die Bibliothek der Burg führen? Wie ich bereits berichtet habe ist sie ausgesprochen belesen und liebt das geschriebene Wort.“
Obwohl der Mann ihr gegenüber freundlich lächelte, merkte Gretlin ihm an, dass er alles andere als begeistert war. „Selbstverständlich ist es mir eine Ehre euch durch die Säle zu führen. Allerdings ist die Nacht schon fortgeschritten und morgen erwartet uns ein aufregender Tag.“
Friedrich fuhr ihm wohlwollend lachend ins Wort. „… an dem ihr wahrscheinlich nicht teilnehmen werdet, da ihr anderen wichtigen Verpflichtungen nachgehen müsst. Gebt ihr nur zwanzig Minuten und lasst sie ein paar Werke ihrer Wahl ausleihen. Ihr werdet sie unbeschadet wieder erhalten. Dafür gebe ich euch mein Ehrenwort.“
Der Mann schien ein Seufzen zu unterdrücken. Er war alles andere als erbaut darüber einem Mädchen des Nachts eine Führung durch den Lesesaal der Burg zu halten. Gretlin und Friedrich folgten dem Mann, der nach wenigen Minuten, die er viele Stufen in die Tiefen des Gemäuers hinunter geschritten war, vor einer großen Tür stehen blieb. Er schloss diese auf und ließ Gretlin eintreten. Friedrich winkte ab und sah seine Base an. „Du weißt ja, ich hab’s nicht so mit dem ganzen Zeug hier drin.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu. „Du wirst es lieben. Versprochen. Ich seh‘ dich morgen.“ Mit diesen Worten wandte er sich um und schritt wieder hinauf ins Erdgeschoss.
Gretlin schluckte und folgte dem unheimlichen Grafen ins Innere. Dieser hatte sich bereits an einem Lesetisch niedergelassen und einige Pergamentrollen hervorgeholt, die er entrollte und darin zu lesen begann. Ohne sie anzusehen, zeigte er mit einer Handbewegung in den Raum. „Sucht euch etwas aus. Es gibt im ersten Regal ein Band mit Ritter- und Heldensagen, das den wenigen Frauen der Burg, die tatsächlich des Lesens mächtig sind, manch erheiternde Stunde geschenkt hat.“ Dann versank er erneut über seiner Lektüre. Der Raum war nur spärlich beleuchtet und Gretlin roch den Duft von altem Papier und Pergament. Das Wissen lag fast greifbar in der Luft, doch wäre es ihr lieber gewesen, wenn sie sich hätte umdrehen und davon gehen können.

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Sie schluckte, atmete tief ein und ging dann langsam durch die Reihen. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingerspitzen im Halbdunkel über die Einbände, wanderte weiter und weiter. Eberhardt, der sie zuvor wenig beachtet hatte, sah sie misstrauisch an, ließ sie jedoch gewähren. Schließlich blieb Gretlin vor einem kleinen, fast versteckten Regal in einer Seitenreihe stehen und griff nach einem griechischen Buch in der untersten Reihe mit dem Titel „ἑρμηνεία βιβελ“. „Die Interpretation der Bibel“. Sie streichelte über den Einband, öffnete die erste Seite und wusste, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte.
Ein seltsames Gefühl im Nacken ließ sie herum fahren. Sie blickte in die dunklen Augen von Eberhardt, der nur wenige Zoll vor ihr stand. Erschrocken fuhr sie nach hinten und stieß mit dem Rücken gegen das Bücherregal. Ein interessiertes Funkeln lag in seinen Augen als er sich näher zu ihr beugte. Gretlin hatte das Gefühl, dass er mehr sah, dass er versuchte in ihr Innerstes zu sehen.
Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, hatte plötzlich etwas von einem Raubtier an sich. „Mein hübsches Mädchen. Von allen Büchern in diesem Raum suchst du dir ausgerechnet dieses aus. Warum?“
Sie schüttelte den Kopf, versuchte zur Seite auszuweichen. „Ich weiß es nicht.“
Wieder kam er näher. „Interessant, mein Mädchen. Interessant.“
Gretlin griff fester nach dem Buch, duckte sich unter seinem Arm und sprang nach vorne. „Ich bin nicht euer Mädchen.“
Der Mann lachte dröhnend. „Du greifst unter all diesen Werken tatsächlich nach diesem einen und bist eine der engsten Vertrauten des vielversprechenden Friedrich? Oh doch, mein Mädchen. Das bist du.“
Gretlin konnte seine Worte kaum noch vernehmen, da sie so schnell sie konnte nach draußen eilte. Dennoch ließ sie seine Stimme für den Rest der Nacht nicht mehr los.
„Ich erwarte, dass du das Buch morgen Abend wieder hierher zurück bringst. Ich freue mich auf deinen Besuch, meine Kleine.“

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Zuletzt geändert von Alida am Di 10. Nov 2015, 19:07, insgesamt 2-mal geändert.

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BeitragVerfasst: Sa 1. Aug 2015, 11:35 
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Am nächsten Tag geschah tatsächlich das, wovon ihr Vetter berichtet hatte: Konrad wurde zum deutschen König gewählt. Ein Freudenfest begann, das die ohnehin schon spärlichen Vorräte der Festung gänzlich vernichtete. Die Tische quollen schier über vor Speisen und Getränken und selbst die Hunde die zu Füßen der Fürsten nach Knochen bettelten und sich darum rauften wurden seit langem wieder satt.
Gretlin hatte zögernd in dem seltsamen Buch gelesen, vorsichtig die zerbrechlichen Seiten umgeblättert. Der Inhalt war merkwürdig und enthielt Ausschnitte aus der Bibel, die in einem völlig anderen, blasphemischen Kontext gedeutet wurden. Es ging hauptsächlich um die Söhne von Adam und Eva; Kain, Abel und Set und das, was aus Kain und seinen Kindern wurde. Seltsame unheimliche Geschichten von Macht, Gewalt und Blut. Gretlin sah sich den Text genau an, versuchte zwischen den Zeilen zu lesen und, dass, was ihr dabei auffiel verstärkte die Furcht, die in ihr hoch kroch noch: Der Verfasser dieses Werkes war der festen Überzeugung, dass das, was er schrieb, der Wahrheit entsprach. Das Werk eines Wahnsinnigen?
Das Mädchen hatte einen Diener gebeten das Buch zur Bibliothek der Burg zurück zu bringen. Dennoch lief es ihr jedes Mal kalt den Rücken hinunter, wenn sie sich nach dem hochgewachsenen Mann umsah, dessen Anwesenheit sie überall zu spüren glaubte.
Sie versuchte mit Friedrich zu reden, der ihr zwar aufmerksam zuhörte und ihr versicherte, dass er schon auf sie aufpassen würde, ihr dennoch nicht die Besorgnis nehmen konnte.

Beim Festmahl sah sie Eberhardt von Katzenelnbogen schließlich wieder. Ganz nach Art der Berater des Königs war er in der Nähe ihres Onkels positioniert, unterhielt sich, lachte dann und wann und warf scheinbar geistreiche Bemerkungen in den Raum, die von den Zuhörern aufmerksam und respektvoll kommentiert wurden. Das Mädchen beobachtete das Schauspiel schalt sich schließlich selbst für ihre unbegründete Furcht. Der Adelige war nichts weiter als der Bibliothekar und einer der engsten Berater ihres Onkels.
Zur zehnten Nachtstunde wurde Gretlin schließlich von ihren Eltern zu Bett geschickt. Ein Diener sollte sie zu ihrem Zimmer geleiten. Sie schritt hinter dem Mann her, blieb jedoch plötzlich stehen und wandte sich um als sie Schritte hinter ihnen vernahm. Das Mädchen blickte nach oben und starrte in das hagere Gesicht des königlichen Beraters.

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Wieder vernahm sie die melodische Stimme. „Ich hatte dein Kommen zu früherer Stunde erwartet, mein Mädchen.“

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„Ich… ich…“ Gretlin suchte nach Worten, drehte sich hilfesuchend zu dem Diener um. Der Mann war verschwunden und sie war allein. Wieder blickte sie in die dunklen Augen ihres Gegenübers und versuchte ihre Stimme fest klingen zu lassen. „Meine Eltern wünschen, dass ich mich zu Bett begebe. Verzeiht bitte, Graf.“
Er hielt sie mit den Fingern an der Schulter zurück und sie spürte die Kälte seiner Hand durch den Stoff ihres Kleides. „Tse, tse, tse. Ich möchte dir gerne jemanden vorstellen. Folge mir bitte!“
Gretlin spürte den Widerwillen, der sie zurück hielt, aber etwas, das sie nicht benennen konnte ließ sie hinter Eberhardt her schreiten, auch wenn sie sich innerlich dagegen wehrte.
Wieder ging er die Stufen hinab zur Bibliothek, öffnete ihr höflich die Tür und ließ sie eintreten. Auch wenn Gretlin nach wie vor Furcht verspürte, zog sie der Geruch von Papier, Leder, Farbe und Bienenwachs wie in jeder Minute ihres Lebens in seinen Bann.
An diesem Abend war die Bibliothek hell erleuchtet

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Eberhardt führte sie zu einem Tisch auf dem mehrere Bücher ausgelegt waren und der durch in Glasgefäßen aufbewahrte Kerzen beleuchtet wurde.
Aus dem Schatten zu ihrer Rechten löste sich eine Gestalt und schritt behände mit außergewöhnlich leichtem Schritt auf sie zu. Es erinnerte sie ein wenig an einen der bei jedem Fest stattfindenden Reigentänze. Der Mann achtete nicht weiter auf den Bibliothekar und blieb vor Gretlin stehen. Seine dunkelblonden Haare glänzten rötlich im Feuerschein und die blauen Augen hatten einen stechenden Ausdruck als wollten sie sich in ihr Innerstes bohren.

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Die Stimme war schneidend und verhältnismäßig hoch für einen Mann. Sie klang amüsiert. „Dieses Mädchen, Eberhardt? Ist das wirklich dein Ernst?“ Er lachte. „Schau sie dir an! Nur Haut und Knochen. Es wäre ein Wunder, wenn sie die nächsten Winter überleben würde.“
Der hagere Mann, der sie her geführt hatte, lachte bei dieser Aussage. „Na, na, Oswald. Ein paar Winter hat sie ja anscheinend schon erfolgreich hinter sich gebracht. Nicht so negativ.“
Der blonde Mann, der mit Oswald angesprochen wurde, zog eine Grimasse. „Das ist meine Aufgabe, mein Guter. Gute Nachrichten und Prophezeiungen verkaufen sich bei weitem schlechter als Warnungen und Unkrufe.“
Der Bibliothekar nickte mit einem schiefen Lächeln. „Margarethe, darf ich euch Oswald vorstellen. Der Possenreißer und Hofnarr des Königs.“ Gretlin stutzte. Sie hatte den Narren ihres Onkels, von dem sie wusste, dass er neben seinen Kunststückchen und seinem beißenden Spott ebenfalls mit seinem schneidenden Witz beratende Funktionen übernahm noch nie ungeschminkt und in normaler Kleidung gesehen.
Gretlin stotterte ein paar förmliche Höflichkeitsfloskeln, wurde aber von dem Mann nicht weiter beachtet.
Dieser drehte sich nach links und sah in die Schatten. „Gabriel? Was denkst du?“
Das Mädchen erschrak, als ihr bewusst wurde, dass noch ein weiterer Mann im Dunkeln stand und sie beobachtete. Sie versuchte etwas zu erkennen und bemerkte einen breitschultrigen Mann mit gerader Nase, braunem Haar und Bart, in leichter Rüstung, der auf einem der Tische saß und den Rücken gegen die Wand gelehnt hatte

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Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und erhob sich als er angesprochen wurde. Er seufzte leicht.
Seine Stimme war dunkel mit einem winzigen Akzent, der wie Latein klang. „Ich wollte Margarethe ein wenig Zeit geben hier unten anzukommen. Wie immer, Eberhardt, neigst du ein wenig dazu deine Gäste zu ängstigen. Und du, Oswald, trägst auch nicht wirklich dazu bei, dass sich daran etwas ändert.“ In seiner Stimme schwang ein Vorwurf mit, der jedoch durch ein verschwörerisches Lächeln zu den beiden Angesprochenen relativiert wurde. Er verbeugte sich. „Darf ich mich vorstellen? Gabriel von Ravenna. Einer der ersten Krieger und Leibarzt eures Onkels, unseres Königs Konrad.“
Wieder betete Gretlin ihre Floskeln herunter, versuchte im Dunkeln noch weitere Gestalten auszumachen, konnte aber, obwohl sie das Gefühl hatte aus dem Schatten weiterhin beobachtet zu werden, niemanden erblicken.
Der Heiler blickte sie fest an. „Weißt du, warum du hier bist, Margarethe?“
Das Mädchen schüttelte nur den Kopf.
„Eberhardt hat uns berichtet, dass du über einige interessante Fähigkeiten verfügst? Du bist außerordentlich belesen, verfügst über Kenntnisse in Griechisch und Latein, beherrschst die gängige höfische Etikette und besitzt Grundkenntnisse der Heilkunst.“
Die Augen des Mädchens wurden groß. Woher wusste der Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, solche Dinge? Dieser fuhr einfach fort. „Du bist eine der engsten Vertrauten deines Vetters Friedrich und des weiteren…“ Er machte eine Pause. „… hast du ein entscheidendes Interesse an den richtigen Büchern.“
Der Hofnarr lachte kurz auf, schritt auf sie zu und blieb in viel zu kurzer Distanz stehen. Er deutete auf die Tischoberfläche. „Unser glatzköpfiger Eberhardt hier hat auf diesem Tisch seine Lieblingsbettlektüre ausgebreitet. Tu mir doch bitte den Gefallen und such das raus, das dich am meisten interessieren würde.“ Er sah sie erneut durchdringend an. Ihr Blick wanderte zu Gabriel, der sie mit dem gleichen Ausdruck ansah. Als schienen sie auf irgendetwas zu warten. Gretlin schluckte und blieb unschlüssig stehen.
Erst als Gabriel sie aufmunternd mit den Worten „Keine Angst. Dir geschieht nichts.“ ansprach ließ sie die Hand über die Buchrücken gleiten und griff nach einem kleinen Buch in schwarzem Ledereinband. „Quomodo voluntatis accipit“ Oswald lachte laut auf. „‘Wie man seinen Willen bekommt‘? Eberhardt? Die Kleine gehört tatsächlich dir. Herzlichen Glückwunsch! Lass dich näher anschauen, Mädchen.“ Der blonde Narr trat auf sie zu, fasste bevor sie reagieren konnte, nach ihren Schläfen und schloss die Augen. Seine Finger waren von eisiger Kälte und schienen unter ihre Haut dringen zu wollen
Gretlin tat einen erschrockenen Schritt nach hinten und ließ das Büchlein zurück auf den Tisch fallen. Sie wollte nur weg von diesem seltsamen Kreis.
Gabriel jedoch hielt sie an der Schulter zurück und schob sie beruhigend wieder nach vorne. Er sah zu Oswald. „Nun, Freund? Was siehst du?“
Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Hofnarren aus. „Ihr Schicksal ist noch nicht geschrieben. Sie ist ein leeres Blatt für dich, Eberhardt, auf dem du deine Handschrift hinterlassen magst.“ Er nickte dem hageren Bibliothekar mit dem kurz geschorenen Schädel zu. Dann sprang er einen Satz nach hinten und drehte sich um die eigene Achse.
„Eberhardt? Gabriel? Entschuldigt mich. Ich habe noch eine Festgesellschaft zu unterhalten. Mädchen? Denk dran, dass du brav isst und dich von hustenden Leuten fernhältst. Es wäre eine Schande für uns, wenn ein unglückliches Schicksal dich vor der deiner Stunde dahinraffen würde.“ Dann verschwand er in den Schatten, die zum Ausgang führten und Gretlin war mit dem Heiler und dem Bibliothekar allein.
Sie nahm all ihren Mut zusammen doch war ihre Stimme dennoch nur ein etwas lauteres Flüstern. „Was wollt ihr von mir?“
Eberhardt von Katzenelnbogen trat näher an sie heran und öffnete den Mund, doch kam ihm Gabriel zuvor. „Margarethe. Du bist eine junge Frau mit ausgesprochen vielversprechenden Fähigkeiten. Des Weiteren bist du die Nichte des Königs und Vertraute von Friedrich. Wir drei, Eberhardt, Oswald und ich beraten den König schon seit langem und haben stets nur das Beste für das Reich und deine Familie im Sinn. Eberhardt hier…“ Er deutete auf den hageren Mann an seiner Seite. „… möchte in den nächsten Jahren dein Lehrmeister sein. Sofern es dir beliebt und du dich entsprechend entwickelst, magst du danach in seine Dienste treten.“
Gretlin sah ihn ungläubig an. Das Angebot erschien ihr seltsam, ehrte sie jedoch auch. Der oberste Berater des Königs- ihr Lehrmeister? Aber warum sollte sie als Nichte des Königs in die Dienste eines einfachen Fürsten treten wollen? Das ergab keinen Sinn.
Eberhardt schritt erneut auf sie zu. „All das Wissen der Bücher steht dir zur Verfügung. Und mein Wissen, sofern du dich als würdig erweist.“ Er streckte ihr in einer einladenden Geste die Hand zu einem Pakt entgegen und er versuchte seinen Blick freundlich wirken zu lassen, was ihm nur mit Mühe gelang.
Ihr Blick wanderte unentschlossen zu dem Heiler. Gabriel an seiner Seite forderte sie mit einem aufmunternden Nicken auf anzunehmen und sie schlug schließlich ein. Die Kälte seiner Hand ließ sie für einen winzigen Moment erstarren.
„Nun denn, mein Mädchen.“ Vernahm sie die melodische, amüsierte Stimme.

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Die Bibliothek verschwamm vor ihren Augen und als sie den Blick wieder hob erkannte sie erneut den Fluss, wusste, dass sie am gleichen Strom stand, jedoch an einer anderen Stelle.
In der Ferne erblickte sie die Mauern einer Stadt, hörte die gängigen Geräusche von Menschenmassen: Geplauder, gelegentliche Rufe, Gekeife, das Bellen von Hunden.
Fanfaren erschollen von der Ferne über das Wasser. Ein Turnier, schoss es Gretlin durch den Kopf.

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Sebastian stand in wenigen Metern Entfernung. Er kam auf sie zu. „Und? Wie ging es schließlich weiter?“
Es machte sie wütend, dass er hier war. Dass er in diesem Traum rumspukte und genau das sehen konnte, was sie erlebte, woran sie sich erinnerte.
„Was geht dich das an, Sebastian? Ich erinner‘ mich nicht!“ Während sie die Worte aussprach erkannte sie, dass es eine Lüge war. Sie hatte die Bilder vor sich. Mit Wut und dem Willen der Verzweiflung versuchte sie die Erinnerungen zu verdrängen, sie nach hinten zu schieben in die dunkelsten Tiefen ihres Gedächtnisses, zu denen sie selbst keinen Zugriff hatte. Die teils mühsamen, teils erheiternden nächtlichen Lehrstunden mit Eberhardt, dem es tatsächlich gelungen war, bei ihrem Onkel eine Erlaubnis einzuholen, sie in Anwesenheit einer alten Nonne, die als Anstandsdame stets außer Hörweite am anderen Ende des Raumes saß und vor sich hin strickte, zu unterrichten. Die vielen Sprachen mit ihrem altertümlichen, frischen, kalten oder temperamentvollen Klang. Eberhardts Berichte über historische Begebenheiten die er so lebendig erzählen konnte als hätte er daneben gestanden. Die Diskussionen über Politik und die Zukunft des Reiches, die er mit Gabriel und Oswald führte und bei denen sie anwesend sein durfte. Die ein oder andere Stunde in der der geduldige Gabriel ihr die Grundkenntnisse der Wundversorgung, des einfachen Schwertkampfes und der Schießkunst lehrte, der beißende, stets jedoch perfekt treffende Spott des Hofnarren, der manchmal in Rätseln sprach die außer ihm niemand sonst ergründen konnte. Sie hatte die Burg ihrer Eltern hinter sich lassen müssen um bei Hof zu leben und sie hatte es schon allein deshalb gern getan um Friedrich häufiger zu Gesicht zu bekommen.
Aber als sie so am Ufer des Flusses stand gelang es ihr nicht die Gedanken so zu verdrängen wie sie es sich wünschte. Sie biss sich auf die Zunge um sich durch den Schmerz abzulenken.

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BeitragVerfasst: Fr 7. Aug 2015, 22:16 
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Sie fuhr ihn an. „Wolltet ihr nicht verschwinden?“
Sebastian biss die Lippen fest aufeinander. „Ja, sobald die Sonne untergegangen ist.“ Er deutete zum Zenit wo die Sonne hell und warm schien. „Noch ist Zeit.“
Gretlin knirschte mit den Zähnen und schwieg.
Er deutete zu der Burg. „Erinnerst du dich an die Hoftage von König Konrad 1146 in Mainz? Der König hatte sich zu einem fähigen Regent entwickelt, der das Reich mit den ihm zur Verfügung stehenden Kräften lenkte. Besondere Konflikte entstanden vor allem mit den Fürsten, die ihm Treue gelobt hatten, dennoch aber an erster Stelle ihren eigenen Plänen nachjagten. Auch mit seinem Neffen Friedrich kam es zu einem Zwist, da sich der junge Fürst aufgrund einer Erbstreitigkeit auf die Seite stellte, die ihm die richtige erschien und das war nicht die des Königs.
Ein Zweck dieses Hoftages war es den König wieder mit seinem Neffen zu versöhnen. Neben den politischen Disputen und den Erneuerungen alter Treueschwüre wurde wie jedes Jahr ein Turnier abgehalten und die Leute strömten von fern und nah herbei.
Gretlin versuchte sich gegen die Erinnerung zu stemmen, zu verhindern, dass die Bilder erschienen, aber es geschah dennoch.

Gretlin stand am Fenster ihres Gemachs und sah hinunter auf die Festspiele, die zu Ehren des Königs abgehalten wurden.

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Sie hörte das dumpfe laute Dröhnen der stumpfen Waffen auf glänzenden Rüstungen, hörte wie das einfache Volk vor Erregung schrie oder im entscheidenden Moment gebannt den Atem anhielt. Einzelne besonders tapfere Ritter wurden mit immer wieder kehrenden Parolen angefeuert, die wie Schlachtrufe klangen. Sie sah nach unten, kurzzeitig gebannt vom aufwirbelnden Staub und den schnellen kriegserfahrenen Bewegungen.
Derzeit kämpften die einfachen Soldaten um ein geringes Preisgeld und unterhielten die gemeinen Massen. Erst am Abend, wenn das Tjosten begann, wurde ihre Anwesenheit erneut erwartet.
Gretlin schloss das Fenster, zog einen der dünnen Vorhänge vor und legte das reich bestickte Gewand ab, das sie zum Gottesdienst getragen hatte, der jeden Morgen abgehalten wurde. Sie schlüpfte in ein einfaches dunkles Kleid und löste die bronzenen Spangen um das Haar nach Art der unverheirateten Bürgerfrauen offen zu tragen.

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Eberhardt hatte ihr einen einfachen, wahrscheinlich unwichtigen Auftrag erteilt, doch lag es nicht in ihrem Sinne ihren Lehrmeister zu enttäuschen und sie beabsichtigte pünktlich am Ort an dem sie sich einfinden sollte zu sein. Sie wusste, einer seiner Diener würde sie in wenigen Minuten abholen und dorthin begleiten.

Es klopfte und bevor Gretlin antworten konnte wurde die Tür bereits heftig geöffnet. Die junge Frau war soviel Respektlosigkeit nicht mehr gewohnt und sie setzte gerade zu einer empörten Bemerkung an als sie Friedrich eintreten sah. Er schloss die Tür hinter sich ohne sie aus den Augen zu lassen

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Der 24 Jährige sah wie immer gut aus, die Rüstung, für ihn gemacht, stand ihm ausgezeichnet, doch Gretlin erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte.
Ein kurzes Lächeln stahl sich auf seine Züge als er näher kam. „Du bist hübsch in dem einfachen Kleid. Siehst genauso aus wie früher. Damals…“ Sie erkannte die dunklen Ringe unter seinen Augen, den ungeschnittenen Bart, die für ihn absolut untypischen Sorgenfalten.
Gretlin erwiderte nichts, sah ihn nur sorgenvoll an. „Ist alles in Ordnung?“
Er lachte humorlos auf. „Aber sicher ist alles in Ordnung. Ich konnte mich mit meinem geliebten Onkel wieder versöhnen. Pah! Wie ich den Sturkopf manchmal am liebsten…“
Sie legte ihm so schnell es ihr möglich war die Hand auf den Mund. Hier ging es nicht nur darum sich vielleicht gegen die eigene Familie zu versündigen. Seine Worte richteten sich gegen den König und konnten als Hochverrat gedeutet werden. Er nahm ihre Hand, schloss sie vorsichtig und führte sie zu ihrem Brustbein. Er schüttelte stumm den Kopf.
Gretlins Stimme war leise. „Friedrich? Was ist?“
Er setzte gerade zu sprechen an als es wieder an der Tür klopfte. Die junge Frau zuckte ertappt zusammen. Warum um alle sin der Welt musste Eberhardts Diener ausgerechnet jetzt hier sein um sie abzuholen. Gretlin seufzte und schloss für einige Sekunden die Augen. Sie befreite ihre Hand aus Friedrichs kräftigen Fingern. „Wir reden später. Versprochen.“
Friedrich sah sie enttäuscht und fragend an. Gretlin versuchte zu erklären. „Eberhardt von Katzenelnbogen hat mir einen Auftrag erteilt, den ich für ihn erledigen muss. Es tut mir unsagbar leid, Friedrich.“
Seien Stimme war gepresst. „Eberhardt ist nur ein einfacher Gefolgsmann…“
Die junge Frau schüttelte traurig den Kopf. „Das ist er nicht. Er ist mein Lehrmeister.“ Sie blickte ihn fragend an, während es erneut zu Klopfen begann.
Friedrich nickte wie um ihr die Erlaubnis zu erteilen sich entfernen zu dürfen, sah sie dabei jedoch nicht an, sondern presste die Lippen aufeinander.
Sie drückte noch einmal seine Hand, murmelte ein entschuldigendes „Sobald ich zurück bin“ und verließ das Zimmer

Die junge Frau stand am Ufer des Flusses. Sie wusste, dass in einigen hundert Metern Entfernung der Diener ihres Lehrmeisters seine Runden drehte und sie nicht aus den Augen ließ. Die Leute strömten auf der breiten Straße am Ende der Böschung an ihr vorbei ohne sie weiter zu beachten.
Sie sollte sich am Ufer des Rheins mit einem Mann treffen. Er würde sich an sie wenden sobald er sie erblicken würde, hatte sich der kahlgeschorene Bibliothekar vernehmen lassen, bevor er seine Nase wieder in ein Buch steckte.

Die Mittagsstunde war längst verstrichen und noch immer war sie nicht angesprochen worden. Unsicher und auch wütend trat sie von einem Fuß zum anderen. Irgendwann hatte Gretlin das Warten satt, ließ schließlich die Straße hinter sich und ging näher an den Kiesstrand. Das Ufer war bis auf einen kleinen Buben und einen jungen Mann, der ihm beibrachte, wie man flache Kiesel wieder und wieder auf der Wasseroberfläche aufspringen lassen konnte, leer. Während der Junge nach den besten Steinen Ausschau hielt näherte er sich und stand schließlich neben ihr. Er musste um die zehn Jahre alt sein, hatte ein schmales Gesicht und dunkle, kinnlange Haare, die fast schwarz wirkten.

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Er sprach sie an und präsentierte zwei dunkle Kiesel in seiner Handfläche. „Es ist gar nicht so einfach die Richtigen zu finden. Sie müssen ganz rund und flach sein“, erklärte er mit ungewöhnlichem Ernst. „Wie oft kannst du sie springen lassen bevor sie untergehen?“
Gretlin schmunzelte und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich habe das noch nie gemacht.“
Er zog die Augenbrauen in die Höhe, griff nach ihrer Hand und zog sie zum Wasser. „Also: Das ist gar nicht schwer. Du hältst den Stein waagrecht und dann versuchst du ihn mit viel Geschwindigkeit flach zu werfen. Wenn du besonders gut bist, dann sollte er dabei noch um die eigene Achse kreisen.“ Der Junge drückte ihr die zwei Steine in die Hand. „Versuch’s!“
Gretlin lachte, versuchte einen Wurf und versenkte den Stein mit einem lauten Klatschen in drei Meter Entfernung. Der Junge nickte. „Das war jetzt nicht so gut, aber das war ja auch dein erstes Mal.“
Der Begleiter des Jungen näherte sich den beiden mit langen Schritten. Er wirkte aufgebracht. „Jakob? Du kannst doch nicht einfach hübsche, fremde Damen belästigen.“

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Gretlin hatte eigentlich erwartet, dass es sich bei dem jungen Mann um den Vater des Buben handelte, aber als sie die fast jugendliche Stimme hörte und kurz das Gesicht des Fremden musterte, berichtigte sie ihre Vermutung. Er war ungefähr in ihrem Alter und damit zu jung für die Vaterrolle. Vielleicht ein Bruder oder naher Verwandter? Seine Kleidung waren eher einfach gehalten: gewöhnlicher Bürger? Handwerksgeselle? Das halblange Haar hing ihm ins Gesicht.
Jakob hob den Kopf. „Sie kann nicht einmal einen Stein hüpfen lassen.“
Der Mann kniete sich zu dem Jungen und sah ihn mit seinen braunen Augen fest und gespielt böse an. „Vielleicht will sie keine Steine springen lassen??? Mal drüber nachgedacht, Neunmalklug?“
Gretlin lachte. „Doch! Ich finde, jeder sollte sowas können. Das steht in keinem Buch. Ich bin übrigens Gretlin.“ Zum Beweis warf sie den nächsten Stein, der zwei Mal aufschlug bevor er unterging.
Jakob nickte stolz: „Siehst du?! Sie wird schon besser.“
Der junge Mann zuckte mit den Schultern, seufzte. Dann stahl sich ein Grinsen auf seine Züge während Jakob nach Gretlins Hand griff um ihre Wurftechnik zu verbessern.
Er selbst blickte grübelnd zur viel frequentierten Straße am Ende der Böschung, sah dann zu den beiden anderen, zuckte kurz mit den Schultern und ließ lachend mehrere Steine hintereinander in den Wellen verschwinden.
Gretlin lernte schnell und freute sich über den kindischen Unfug. Wann hatte sie zuletzt Zeit für kleine Belanglosigkeiten gehabt?
Die beiden Brüder waren gute Lehrmeister und angenehme Gesellschaft. Während es dem Kleinen gelang sich noch weiter zu verbessern, erzählte der Ältere von dem Meister in dessen Diensten er stand, den Städten und Ländern, die er in seinem Auftrag bereiste und den verschiedenartigen Menschen, die er besuchen durfte. Gretlin lauschte gebannt. Sie war völlig fasziniert von den Geschichten, die er spannender und lebensnaher als jedes Buch berichten konnte. Er warf ab und an einen verstohlenen Blick in ihre Richtung, warf dann einen Stein durch die Luft.

Irgendwann hörte sie aus der Ferne den Glockenschlag der Stadt und sie zuckte fast ertappt zusammen. Der Bub suchte gerade in fünfzig Metern Entfernung nach geeigneten Kieseln, also richtete sie ihr Wort an den jungen, braunhaarigen Mann, der gerade lachend einen Satz nach hinten sprang um einer Welle auszuweichen. „Ich muss zurück. Eigentlich sollte ich hier jemanden treffen, aber der ist anscheinend nicht gekommen.“
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, er musterte sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck und zog beide Augenbrauen in die Höhe. Er schluckte. „Ihr ward verabredet? Darf ich fragen, mit wem?“
Gretlin zuckte die Schultern. „Ich sollte angesprochen werden… Ein kleiner Auftrag meines Lehrmeisters.“
Der Mann tat einen raschen Schritt auf sie zu und blieb nur eine Armeslänge von ihr entfernt stehen. „Bist du Margarethe?“
Sie nickte zögernd. Nun war es an Gretlin, ihn fragend anzublicken als er zu einer Erklärung ansetzte. „Ich sollte dich zur Mittagsstunde hier treffen. Ich… ich…“ Er schien nach den richtigen Worten zu suchen, fuhr sich nervös über die Lippen. „Ich habe nach einer hübschen, reich gekleideten Edelfrau Ausschau gehalten.“
Gretlin verzog gespielt beleidigt den Mund. „Oh, verzeiht, dass ich euch enttäuscht habe und ihr nun keine hübsche Edelfrau vorgefunden habt.“
Der Mann wurde schlagartig rot und schwieg irritiert.
Sie schüttelte grinsend den Kopf. Ein herausfordernder Ton lag in ihrer Stimme. „Besonders diplomatisch und redegewandt seid ihr ja nicht gerade.“
„Ich… dachte, da du ja quasi in der gleichen Situation bist wie ich, wir uns ähnlich sind… Unsere Herren wollten, dass du mich triffst, damit ich dir deine Fragen beantworten kann.“ Er überlegte anscheinend, wie er fortfahren sollte. Gretlin bemerkte sofort, er war noch immer überrumpelt. „Ich soll dir im Namen unserer Herren Eberhardt, Oswald und Gabriel einen Pakt anbieten. Es soll dir gestattet werden in die Dienste von Eberhardt von Katzenelnbogen zu treten. Sie wollen dich heute Abend im Dom antreffen, deine Antwort anhören und den Pakt besiegeln.“
Entrüstet fuhr Gretlin ihm über den Mund und schüttelte den Kopf. „Was erlaubt ihr euch? Wie kommt ihr darauf, dass wir beide uns ähnlich wären? Oder dass ich bereit wäre, bei Eberhardt in Dienst zu treten? Habt ihr eines vergessen? Ich bin die Nichte von König Konrad. Da habe ich andere Aufgaben und Verpflichtungen als bei einem einfachen Adeligen in den Dienst zu treten.“ Gretlin bedauerte ihre Worte, da sie nicht beabsichtigt hatte ihren langjährigen Lehrmeister zu beleidigen, war aber dennoch zu wütend um sich zu beruhigen.
Der junge Mann stand wie erstarrt da, sah sie irritiert an. Dann schien er zu begreifen, dass sie ihre Worte in vollem Ernst gesprochen hatte und begann zu lachen. Er trat einen Schritt auf sie zu und seine Stimme war leise. „Gretlin. Verzeih mir meine Worte, aber sowohl dein Vater als auch der König würden dich für das, was Eberhardt, Oswald und Gabriel zu bieten haben sofort dem nächstbesten dahergelaufenen stinkenden Bettelmönch zur Frau verkaufen.“
Wut funkelte in ihren Augen. „Und was soll das sein?“
Er sah sie fest an und schloss die Faust in der Luft als befände sich etwas darin, das man festhalten konnte. „Unsterblichkeit und unvorstellbare Macht.“ Die beiden Worte klangen aus dem Mund des Jungen, der ihr gerade noch Geschichten über seine Erlebnisse in der Welt berichtet hatte und im hellen warmen Sonnenlicht so unglaublich wie ein Märchen. Dennoch stockte ihr für einen Sekundenbruchteil der Atem.
Sie musterte das Gesicht ihres Gegenübers, der sie zögernd und erwartungsvoll ansah. „Wer seid ihr?“
„Ich bin Ghul, wenn du so willst, Diener von Gabriel, seit er meinen Bruder und mich als einzige von der Seuche heilen konnte, die unser ganzes Dorf dahinraffte. Ich unterstütze ihn, helfe, führe seine Aufträge durch. Vor allem bei Tag. Mein Name ist Sebastian.“ Ein schmales Lächeln zuckte um seine Mundwinkel.
Gretlin verzog die Lippen zu einem schmalen Strich. „Sebastian? Sag mir: Kennst du wirklich den Preis für das, was uns angeboten wird?“
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und er sah zu dem kleinen Jungen am Kiesstrand. Zweifel ließ seine Mundwinkel zucken. „Ich vermute, er ist nicht gering.“

Das Bild verschwamm, da Gretlin es mit aller Gewalt und Willensstärke, die sie besaß, einriss. Sie fuhr Sebastian, der in der gleichen Position wie zuvor seine jüngere Ausgabe neben ihr stand, an. „Du warst da! Du warst schon damals da! Wir sind uns schon zu Lebzeiten begegnet. Warum hast du nichts gesagt? Warum hast du mich verfolgt?“
Er fuhr sich über die Lippen und sie erkannte den schwachen Schatten der Nervosität wieder, der schon damals auf seinen Zügen gelegen hatte. „Gretlin? Das ist kompliziert…“
„Ja, alles ist kompliziert, nicht wahr?“
Er hielt sie mit beiden Händen an den Schultern fest, doch sie schlug ihn fort. Seine Worte waren leise. „Du sollst dich erinnern!“
Sie zischte ihm entgegen: „Und wenn ich mich vielleicht gar nicht erinnern will? Hast du daran mal gedacht? Vielleicht ist es gut so wie es ist. Weil der Preis, den wir gezahlt haben zu hoch war?“

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BeitragVerfasst: Do 20. Aug 2015, 00:00 
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Gretlin eilte zurück zur Burg. Ob Eberhardts Wachmann in der Lage war ihr zu folgen, erschien ihr in diesem Moment gleichgültig. Außer Atem und verschwitzt kam sie schließlich wieder in der Festung zu Mainz an. Die Worte des jungen Mannes kreisten in ihrem Kopf, verwirrten sie und ließen sie fast schwindeln. Konnten seine Behauptungen wirklich Realität sein?
Sie hastete in fast unziemlicher Geschwindigkeit durch die Gänge der Burg. In ihrem Zimmer riss sie sich das Kleid vom Körper, wusch sich den Straßenstaub mit einem nassen Leinentuch von der Haut und versuchte, wie es von ihr erwartet wurde, eines der eleganten kostbaren Gewänder anzuziehen, Doch gelang es ihr erst nach einigen Minuten ihre zitternden Finger unter Kontrolle zu bringen und die Bänder zu schließen.
Sie verharrte vor ihrem Spiegel und betrachtete die junge Frau, die ihr gegenüber stand. Was war echt? Was möglich? Welchen Preis zahlte man für ein solches Angebot?

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Gretlin schloss mehrere Atemzüge lang die Augen, machte dann auf dem Absatz kehrt und öffnete die Zimmertür. Friedrichs besorgtes Gesicht, das sie in den letzten Stunden fast vergessen hatte, verfolgte sie und bevor sie sich weitere Gedanken um ihren Lehrmeister und seine Begleiter machen konnte, wollte sie ihren Vetter aufsuchen um mit ihm zu reden.
Sie machte sich auf den Weg zu seinen Gemächern.

Die Wachen ließen sie wie immer einfach passieren und sie klopfte, bevor sie ohne langes Zögerns die Klinke hinunter drückte und hinein spähte. „Friedrich?“
Sie durchschritt einen schmalen Flur, warf einen kurzen Blick in das Schlafgemach und fand ihren Vetter schließlich in einer kleinen Kammer über seinen Schreibtisch gebeugt. Vor sich stand eine Karaffe mit Wein und der sehr niedrige Pegelstand des Behälters ließ sie vermuten, dass er dem Alkohol reichlich zugesprochen haben musste.

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Die Fenster eröffneten die Aussicht auf die umliegenden Hügel.
Als sie eintrat hob er müde den Kopf, stellte die Karaffe mit beinahe schuldbewusstem Ausdruck zur Seite und blickte sie bitter an.
Sie trat näher, setzte sich ihm gegenüber und nahm seine Hand.
In seiner Stimme schwang ein leichter Vorwurf mit. „Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen…“
„Friedrich. Es tut mir leid…“
Der rothaarige Mann schüttelte nur den Kopf. „Schon gut.“
Gretlin sah ihn fest an. „Was ist passiert?“
Wieder seufzte Friedrich. „Gretlin? Du weißt, dass ich mich mit unserem Onkel Konrad, dem König, überworfen habe, weil ich bei den Erbstreitigkeiten um das Herzogtum Bayern nicht ihn unterstützt habe. Er ist bereit mir zu vergeben sofern ich auf seine Bedingungen eingehe…“ Der breitschultrige Mann ihr Gegenüber stützte den Kopf schwer in die Hände. Gretlin sah ihn an und wartete, dass er weitersprach.
Seine Stimme war ernst. „Er verlangt, dass ich ihn nächstes Jahr auf den Kreuzzug zur Rückeroberung der Grafschaft Edessa im Norden des Heiligen Landes begleite.“
Gretlin atmete schwer ein und presste die Lippen aufeinander. Sie wusste wie wohl jeder zu dieser Zeit, was ein Kreuzzug bedeutete und dass es wahrscheinlich war, dass ihr Vetter nie wieder den Boden seiner Heimat betreten würde.
„Sein Sohn Heinrich soll in der Zwischenzeit in Deutschland zum Mitkönig ernannt werden.“ Er sah sie mit funkelnden Augen an. „Der Junge ist 9 Jahre alt. Was denkt sich Konrad? Will er tatsächlich ein Kind herrschen lassen?“ Friedrich schüttelte wütend den Kopf. „Und seine letzte Bedingung: Ich muss mich mit Adela, der Tochter eines nordbayerischen Markgrafen vermählen lassen um ihm in Bayern bezüglich der Erbstreitigkeiten den Rücken zu stärken.“
Er ergriff ihre Hände und sah sie eindringlich an. „Ich will dieses Mädchen nicht und sie mich auch nicht. Sie ist schon einem anderen versprochen, den sie liebt und diese Verbindung soll nun gelöst werden. Für unseren König.“ Seine Stimme triefte vor Verachtung. „Ein Hoch auf Konrad, Romanorum imperator augustus.“ Wieder traf sie der Blick der blauen Augen und seine nächsten Worte ließen sie einen Zoll zurück weichen.
„Ich will dich als Gemahlin. Das wollte ich schon immer. Genug Familien von Adel verheiraten Vettern und Basen miteinander ohne dass daran Anstoß genommen wird. Du bist die Einzige, die mich versteht so wie ich bin, bei der ich einfach ich sein kann.“ Er nahm ihre plötzlich kalten Finger und führte sie zu seinen Lippen.
„Friedrich… Ich…“
„Er hat vehement abgelehnt. Du kennst ihn ja: Der Papst spricht und Konrad gehorcht brav wie der niederste Diener ohne Würde und eigene Meinung. Ein so naher Verwandtschaftsgrad würde vom derzeitigen Papst niemals geduldet. Gretlin? Was interessiert uns hier in Deutschland der Oberpfaffe auf dem Stuhl Petri? Er ist tausende Meilen entfernt.“ Wieder schüttelte Friedrich den Kopf, straffte die Schultern, sammelte sich. Er sah sie fest an. „Wir können dennoch zusammen sein. Auch ohne Ehebund. Ich bin Herzog von Schwaben und niemand würde sich mir in dieser Hinsicht in den Weg stellen. Vor allem, da jeder weiß, dass die Ehe von Konrad arrangiert ist.“ Er beugte sich zu ihr, küsste sie zaghaft.
Gretlin erstarrte. Vielleicht hätte sie noch vor wenigen Stunden den Kuss erwidert, sich an ihn gedrückt. Sie suchte in ihrem Inneren nach Gefühlen, die seinem Drängen entsprachen, aber das alles fühlte sich mit einem Male so falsch an.
„Friedrich? Bitte… nicht.“ Sie schluckte und suchte nach Worten, die er verstehen würde. „Das geht nicht. Es würde alles zerstören. Alles! Ich werde immer für dich da sein. Immer an deiner Seite. Aber nicht so…“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn und erhob sich.
Seine Stimme war schwach. „Gretlin?“
Die junge Frau schüttelte sacht den Kopf. „Es tut mir leid.“
Sie schloss die Augen, wandte sich um und schritt zur Tür um das verzweifelte Gesicht ihres Vetters, das sich wie eine Brandwunde in ihre Erinnerung grub, nicht länger ansehen zu müssen.

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Gretlin hastete ziellos durch die Gänge der Festung. Irgendwann bemerkte sie, dass sie wie von selbst den Weg zur Bibliothek eingeschlagen hatte.

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Sie fluchte leise, blieb mehrere Minuten in einer dunklen Ecke stehen und versuchte sich wieder zu sammeln. Alles erschien ihr so falsch… Sie sackte zusammen, vergrub das Gesicht in den Händen, blieb lange einfach so sitzen. Irgendwann als sie sich nähernde Schritte hörte, erhob sie sich, wischte sich die Tränen aus den Augen und versuchte ihr Gesicht im Schatten zu halten um den beiden entgegenkommenden Dienstmägden keine Gelegenheit für Vermutungen und Getuschel zu geben.
Sie überlegte lange, was sie tun sollte.
Dann griff sie sich von irgendwoher einen dunklen Mantel und verließ das Schloss durch einen Seiteneingang in der Nähe des Flügels in dem täglich gekocht wurde. Vorsichtig lenkte sie ihren Schritt durch die nächtlichen Straßen der Stadt, mied auf sie zukommende Passanten und stand schließlich vor den mächtigen Torflügeln des gigantischen dunklen Doms.
Zaghaft streckte Gretlin die Finger nach dem Türgriff aus und drückte ihn vorsichtig nieder. Sie stemmte sich gegen das schwere Holz und zwängte sich zögernd ins Innere.

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Drinnen war es finster. Nur der obere Teil des Gebäudes, das kreuzförmige Deckengewölbe wurde von einem schwachen, kaum erkennbaren Strahlen erhellt. Hinter ihr fiel krachend der schwere hölzerne Bügel ins Schloss. Ein einzelner lauter Ton, der ihr zu verkünden schien, dass es kein Zurück mehr gäbe.
Vorsichtig setzte sie einen Schritt vor den anderen. Eine laute, fröhlich klingende Stimme begrüßte sie. „Wir haben lange auf dich gewartet, mein Mädchen. Was hat dich aufgehalten? Der junge Friedrich?“ Gretlin zuckte zusammen als hätte man sie geschlagen und sie war froh, dass man ihre Regung im Dunkeln der Kathedrale nicht erkennen konnte.
Schließlich stand sie vor dem Altar und plötzlich erhellte wie von Geisterhand das Licht mehrerer Kerzen den Altarraum.
Drei Gestalten näherten sich ihr. Sie erkannte ihren Lehrmeister, den Bibliothekar Eberhardt, den Narren Oswald und den ersten Krieger des Königs, Gabriel von Ravenna. In einer der vorderen Kirchenbänke konnte sie Sebastian erblicken. Er saß angespannt da ohne sich zu rühren und hatte die Hände so fest zu Fäusten geballt, dass die Knöchel weiß erschienen. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich verzogen.

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Gretlin schwieg.
Eberhardt lächelte sie amüsiert an. „Du bist also hier in dieser Nacht erschienen um in unsere Dienste zu treten, um einen Bund mit uns zu beschließen.“
Das Mädchen schüttelte schwach den Kopf. „Ich verstehe die Bedingungen dieses Bundes nicht. Sagt mir, was es ist, dass ihr mir anbieten wollt.“ Sie zögerte. „Und den Preis, den ich dafür zahlen soll.“
Eberhardt nickte anerkennend und schmunzelte zu dem weißblonden Hofnarren. „Mein Mädchen ist gar nicht so dumm, nicht wahr?“
Dieser zuckte leicht gelangweilt mit den Schultern. „Nun ja. Das Angebot ist so verlockend, dass sie es eh annehmen wird, mein Freund. Auch wenn sie vielleicht Zweifel plagen mögen.“
Gabriel hatte die ganze Zeit keinen Ton von sich gegeben sondern das Treiben still und mit verschränkten Armen beobachtet. Er lehnte an den steinernen Altar und ließ ab und an seinen Blick von der kleinen Gruppe zu seinem Ghul und wieder zurück wandern als suche er etwas.
Eberhardt baute sich vor Gretlin auf. „Du erhältst solange du in unseren Diensten bist…“ Er ließ die Worte langsam auf der Zunge zergehen. „…Unsterblichkeit, Macht, die diejenige normaler Sterblicher bei weitem übersteigt, die Fähigkeit Dinge zu erlernen, die sich normale Menschen nicht einmal vorstellen können… und die Möglichkeit falls du dich würdig erweisen solltest, den Kuss zu erhalten.“
Gretlin öffnete fragend die Lippen doch ihr Lehrmeister kam ihr zuvor. „Durch den Kuss erhältst du unsere Fähigkeiten, wirst mächtig wie wir. Mit den dazugehörigen Stärken… und Schwächen.“ Er lächelte gewinnend als wären diese Schwächen nicht der Rede wert.
„Könnt ihr eure Worte beweisen?“ Gretlins Forderung war dreist, das war ihr bewusst, aber zu viel stand auf dem Spiel.
Der Bibliothekar sah kurz zu Oswald, der laut lachte und im nächsten kurzen Augenaufschlag wie vom Erdboden verschluckt war. Gretlin öffnete den Mund und hatte Schwierigkeiten ihn wieder zu schließen. Sie wandte die Augen zu Eberhardt, der eine kleine Flamme zwischen den Fingerspitzen tanzen ließ. Ihr Blick glitt zu Gabriel, der nach wie vor am Altar lehnte und den Kopf schüttelte. „Meine Fähigkeiten, Margarethe, sind nicht ganz so offensichtlicher Natur.“ Ein schwaches Lächeln begleitete seine Worte.
Eberhardts Stimme hallte in der Kathedrale wieder. „Der Preis ist absolute Untergebenheit und Loyalität, der Hunger nach unserem Blut, da es der Schlüssel zu diesen Mächten ist.“
Gretlin riss ihren Blick von den dunklen Augen ihres Gegenübers und suchte fragend den Blick von Sebastian. Er biss die Lippen aufeinander und seine dunklen Pupillen bohrten sich in ihren Augen fest als wollte er ihr etwas mitteilen. Aber der Junge war nur Zuschauer bei diesem seltsamen Treiben und hatte keine Möglichkeit einzugreifen.
Sie erinnerte sich an ihre Worte am Fluss: Der wirkliche Preis.
Gretlin straffte sich und sah Eberhardt und Oswald fest an. „Und was ist es, das ihr ausgerechnet von mir wollt?“
Die beiden Männer lächelten verschmitzt. Es war wieder Eberhardt, der sprach. „Ich persönlich habe stets deine Fähigkeiten in Bezug auf das geschriebene Wort geschätzt… solche Eigenschaften sind eine absolute Seltenheit… Aber das ist es nicht allein: Du bist Friedrichs engste Vertraute und der junge Fürst von Schwaben wird in einigen Jahren der nächste König werden. Er ist der vielversprechendste Anwärter auf den Thron und wird unsere vollste Unterstützung erhalten. Friedrich begehrt dich so wie du ihn und eure gemeinsamen Söhne, auch wenn unehelich, werden dereinst so Gott will mit unserer Unterstützung ebenfalls die Herrschaft über das Heilige römische Reich innehaben. Du wirst stets an Friedrichs Seite sein und auf niemanden wird er in solchem Maße hören und bauen wie auf dich. Du wirst ihm unsere Ratschläge mitteilen. Keine Angst: Das Wohl des Reiches liegt uns am Herzen und damit auch das von Friedrich.“
Gretlin wich zurück als habe man sie geschlagen. „Ihr wollt mich als Mätresse des zukünftigen Kaisers? Als Geliebte meines Vetters? Damit ihr durch mich auf ihn einwirken, ihn beeinflussen könnt?“
Oswald lachte. „Mädchen? Seit wann bist du denn so verklemmt als wenn du einen Keuschheitsgürtel tragen müsstest? Du hast den jungen Friedrich doch schon immer begehrt.“ Sein Gesicht war dem ihren ganz nah und sie spürte die Kälte, die von seiner blassen Haut ausging. Auch der Lufthauch, der ihr entgegenschlug wenn er sprach, war frostig. „Ich kann deine Gefühle lesen wie du offene Bücher, Mädchen. Also verstell dich nicht!“

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Hilfesuchend blickte sie zu Sebastian, der aussah als wolle er jeden Moment von der Bank aufspringen, dann zu Gabriel. „Das mache ich nicht. Ich liebe Friedrich wie einen Bruder. Ich werde nicht das Bett mit ihm teilen!“
Eberhardt schüttelte den Kopf, wirkte aufgebracht. „Mein Mädchen. So schlimm ist das nicht. Du wirst dir deiner Gefühle schon noch bewusst werden.“
Gretlin schüttelte nur verzweifelt den Kopf.
Der Krieger am Altar kniff nachdenklich die Augenbrauen zusammen, musterte sie lang, warf einen Blick zu seinem Ghul, dann wieder zu seinen Gefährten. Plötzlich als wäre ihm etwas bewusst geworden, brach er in lautes, schallendes Gelächter aus. Er stieß sich vom Altar ab und trat auf Oswald zu.
„Ja, Oswald. Du bist was Gefühle angeht unser aller Meister. Aus einer Flamme erschaffst du ein Inferno, ein Orkan verpufft zu einem Lufthauch.“ Er lächelte zweideutig und wurde dann wieder ernst.

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„Aber diesmal irrst du leider. Vielleicht hat sie Friedrich in ihrem Inneren mal begehrt, aber das ist vorbei.“ Wieder lachte er laut auf. „Du könntest auch sagen, wir sind zu spät gekommen. Die Gefühle junger Sethskinder sind wankelmütig wie Vögel im Wind. Mal schenken sie ihr Herz dem einen, mal dem anderen...“
Er drehte sich zu Eberhardt um. „Mein guter Freund. Akzeptiere das, was ist. Wenn du sie willst, dann mach sie zu deinem Ghul. Eine Ziehschwester des Königs ist besser als nichts, oder? Schon in Anbetracht der Jahre, die wir und in besonderem Maße du, in sie investiert haben. Wir haben ihr unsere Bedingungen genannt, sie die ihre. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen und WIR werden uns daran halten.“
Seine Stimme klang hart und bestimmt und auch wenn den anderen beiden nicht zu gefallen schien, was er aussprach, nickten sie schließlich.

Die Männer stellten sich schließlich um den Altar auf. Oswald in der Mitte, Gabriel und Eberhardt links und rechts davon zu seinen Seiten. Gabriel wechselte einen verschwörerischen, fragenden Blick mit Eberhardt, der seufzend nickte und der Krieger rollte gespielt gelangweilt mit den Augen.
Der Narr schlug das Kreuzzeichen und begann in Latein zu rezitieren. Gretlin lief ein Schauer den Rücken hinunter als sie die Worte der heiligen Messe erkannte, die aus dem Mund von Oswald wie blanker Hohn klangen.

“In nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti.”
Gabriel und Eberhardt antworteten. „Amen.“
“Gratia Domini nostri Kainis christi, et caritas Dei, et communicatio Sancti Spiritus sit cum omnibus vobis.”
Die Antwort kam prompt. “Et cum spiritu tuo”

Schritt für Schritt ging er alle Teile des Gottesdienstes durch, änderte nach Belieben ab, sang seltsame Lieder, die sie nie zuvor vernommen hatte, ließ die gespielten Gläubigen knien und sich wieder erheben.
Schließlich griff Eberhardt zu einem Messbecher aus Metall und stellte ihn auf die Mitte des Altars.

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Gabriel zog die Klinge seines Schwertes, das im Kerzenschein wie eine Flamme aufleuchtete. Die Männer hielten ihre offenen Handflächen nebeneinander und mit einem einzigen Streich fuhr er über die Haut der Gefährten und ritzte sie tief ein. Gleichzeitig ließen sie alle zusammen das dunkelrote Blut in den Becher fließen. Schließlich nahm Eberhardt den Becher an sich und verharrte noch eine Minute in dieser Pose. Im gleichen Takt wie ein langsamer Herzschlag fielen die Tropfen nach und nach in den Becher. Er drehte sich zu ihr um und kam auf sie zu. Seine Hand war unversehrt.
Seine Worte erreichten sie wie durch einen Nebel. „Ecce Agnus Dei, ecce qui tollit peccata mundi. Beati qui ad cenam Agni vocati sunt”.
Sie schluckte schwer, dann antwortete sie die Worte, die sie täglich in der Andacht sprach. „Domine, non sum dignus, ut intres sub tectum meum: sed tantum dic verbo, et sanabitur anima mea.”
Eberhardt hielt ihr den Becher hin. „Sangus christi.“
Sie griff danach und warf einen letzten Blick zu Sebastian hinüber. Seine stockenden Worte am Fluss fielen ihr wieder ein. ‚in der gleichen Situation wie ich, da wir uns ähnlich sind…‘
Sie holte tief Luft. „Amen.“ Dann führte sie den Kelch an ihre Lippen.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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BeitragVerfasst: Mo 4. Jan 2016, 23:30 
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Das Blut ihrer Meister veränderte alles, was kommen sollte. Desto mehr sie Zoll um Zoll über die Mächte der Dunkelheit lernte, desto mehr sie sich auf die Belange der Kainiten einließ, desto mehr entrückte sie der Welt der Sterblichen.

Gretlin sah sich um. Die Kirche war verschwunden und nichts war übrig außer Schwärze und einem bleiernen Nachthimmel. Der kalte Wind riss an ihrer dünnen Kleidung und ließ sie erbärmlich frösteln.
Sie setzte einen Schritt vor den anderen und schrie beinahe auf als ihr Fuß plötzlich keinen Stein sondern unergründliche Tiefe unter sich spürte. Sie riss sich zurück und ging auf die Knie, tastete vorsichtig nach dem Abgrund, den sie im Dunkeln nicht erkennen konnte. Sie griff nach unten und fuhr mit den Fingerspitzen die scharfkantige Mauer ab. Zoll um Zoll bewegte sie sich langsam weiter und begriff zu guter Letzt: Sie befand sich auf einer Plattform, einem Turm ohne Balustrade.
Sie hatte das wage Gefühl, den Platz zu kennen. Gretlin schluckte schwer. Wieder und wieder umrundete sie die Plattform ohne einen Ausweg zu finden. Der Wind blies stärker und stärker, machte es schwerer sich an den bloßen Steinen fest zu halten.
Sie schrie so laut sie konnte in die Nacht hinaus. „Verdammt! Sebastian! Wenn du hierfür verantwortlich bist, dann hör auf damit!“ Die Worte wurden ungehört vom Wind weg getragen und keine Antwort folgte.
Sie wusste, jeden Moment würde sie fort gerissen und in die Tiefe geschleudert werden. Der Ausweg musste irgendwo sein.
Gretlin griff nach rechts, wusste, dass dort Holz sein musste, der zusammengestürzte alte Dachstuhl, in den vor einigen Jahren der Blitz eingefahren war. Sie wusste, man hatte die Glocken in Sicherheit bringen lassen, da die Westtürme des Doms als einsturzgefährdet galten und man vermutete, ihr Gewicht würde schließlich zum Zusammenbruch des Turmes führen.
Glocken, eingestürzter Dachstuhl… Der Ausweg…
Gretlin kroch auf allen vieren zur Mitte des Turmes, suchte mit den Fingern nach einem eisernen Griff und tatsächlich: dort war er! Sie riss an dem kalten metallen Ring und versuchte die hölzerne Bodenklappe zu öffnen. Das Holz war verzogen und hatte sich verklemmt. Der Kaiserdom zu Frankfurt, verdammt! Der Kaiserdom.
Sie riss fester und bekam die Tür auf. Dann umfing sie erneut dunkelste Schwärze.




Frankfurt, Dezember 1146, Christtag
Gretlin sah um und erkannte um sich die Mauern einer mächtigen Kathedrale. Sie grübelte und überlegte, ließ ihren Blick über die hohen Wände streifen und verlor sich im hohen Kreuzgewölbe, das rußgeschwärzt im Schatten der Dunkelheit auslief. Dann sah sie überall die tief im Gebet versunkenen Menschen knien. Ein Gottesdienst… Sie grübelte: im Kaiserdom zu Frankfurt.

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Sie hielt nach der hageren Gestalt Ausschau, die sie bisher im Traum verfolgt hatte, konnte diese aber nirgendwo ausmachen. Sie erinnerte sich an seine Worte: „Bis die Sonne untergegangen ist“ Er war fort so wie er es versprochen hatte und mit einem Mal fühlte sie sich einsam in diesem Traumgespinst.
Etwas zerrte ungeduldig und so dezent wie irgendwie möglich an ihrem Arm und sie erkannte ihren Vetter Friedrich direkt zu ihrer Linken, der ebenfalls kniete und wenige Meter entfernt, fast in der Mitte des mächtigen Gebäudes, ihren Onkel Konrad, der mit gesenktem Haupt direkt vor einem Mönch in schwarzem Habit seine Gebete sprach. Friedrichs Stimme war ein unhörbares aber eindringliches Flüstern. „Gretlin. Das dort vorn ist der bedeutendste Geistliche unserer Zeit. Knie dich hin bevor er dich bemerkt und daran Anstoß nimmt.“ Erst jetzt merkte sie, dass sie die Einzige war, die stand.
Sofort fiel sie auf die Knie und tat es den anderen gleich.
Sie sah zum Altar und im gleichen Moment erscholl die laute, mächtige Stimme des Geistlichen, Bernhard von Clairvaux, dem Gründer des Zisterzienserordens, der im Dom in Frankfurt die Christmette hielt. Es fiel ihr schwer den Worten zu folgen. Dann jedoch begriff sie: Seine Predigt war ein Aufruf zum Zweiten Kreuzzug der Christenheit. Er prangerte das weltliche Rittertum als verderbt an und plädierte für ein geistliches Rittertum, das er bei den Templern verwirklicht sehen wollte. Seine Worte waren voller Hass auf alle Andersgläubigen und diejenigen, die ein friedliches Miteinander duldeten. Laut rechtfertigte er jede Waffe, die sich gegen einen Widersacher der heiligen Sache erhob und erteilte eine vorbeugende Absolution an jeden, der sich wie König Konrad bereit erklärte, das Kreuz zu nehmen um das Heilige Land zu befreien.
Die energische, dröhnende Stimme, die bis in die letzten Reihen zu hören war, jagte Gretlin einen Schauer den Rücken hinunter.
Schließlich erhob sich ihr Onkel mit leicht gebeugtem Haupt von seinem in der Nähe des Altars platzierten Thron und nahm unter lautem Jubel und Getöse des vollen Gotteshauses das Kreuz aus den Händen des mächtigen Mönches entgegen:
Der zweite Kreuzzug begann in diesem Moment, mit dieser einen Berührung. Er hielt das Kreuz in die Höhe, ließ den Fackelschein der Kerzen über das vergoldete Holz glänzen und schritt noch immer bejubelt zum Haupttor hinaus.
Friedrich nickte ihr kurz verschwörerisch zu und erhob sich dann. Gretlin konnte erkennen, dass er nur mit Mühe ein abfälliges Rollen der Augen unterdrückte. Dann schloss er sich den anderen Gefolgsleuten des Königs nach draußen an.
Gretlin blieb in ihrer Bank sitzen und ließ ihren Blick über die Köpfe der Menschen wandern. Wo waren die drei Kainiten aus ihrer Erinnerung? Wo war Sebastian?
Als schließlich der Pulk aus Menschen die Kathedrale verlassen hatte, niemand mehr in der Kirche verweilte und eine fast erdrückende Stille eingekehrt war, erhob sie sich und ging langsam durch die leeren Bankreihen ins Seitenschiff. Ihre Schritte hallten durch die Dunkelheit. Mehrere kleine Kapellen waren in die Seitenschiffe eingebaut und das Mädchen hielt vor einer in der ein Heiliger im Licht einer einzelnen Wachskerze die Hände gen Himmel streckte. Um seinen Körper geschlugen war er etwas Gefaltetes, das an einen Mantel erinnerte. Gretlin schauerte als sie es erkannte: er brachte seine eigene Haut, die man ihm abgezogen hatte, als Opfer dar. Der gehäutete Heilige Bartholomäus...

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Die Stimme von Friedrich in ihrem Rücken ließ sie langsam umwenden. „Im Osten sollen sie gar seltsame Folterrituale gebrauchen. Ob das Schinden wohl nach wie vor Brauch ist?“ Ihr Vetter verweilte mit grimmigem Zug um die Mundwinkel neben ihr und ein Schatten legte sich auf sein rotes Haar.

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Sie sah ihn an. „Hast du Angst?“
„Ich wäre ein Narr, hätte ich keine. Dieser Kreuzzug auf die Art du Weise wie Konrad ihn plant ist ein Himmelfahrtskommando, das wohl dem größten Teil der Männer da draußen den Tod bescheren wird. Aber er glaubt, Gott wäre auf seiner Seite und würde ihn schon schützen… wegen der göttlichen Sache. Ich denke Gott hat uns einen gesunden Menschenverstand gegeben und hofft stattdessen darauf, dass wir diesen nutzen.“
Gretlin sah ihn fest an. „Du hast keine Wahl, nicht wahr?“
Friedrich schüttelte den Kopf. „Konrad will mich an seiner Seite. Ich bin ein guter Kämpfer und kein schlechter Stratege.“ Er sah sich misstrauisch um bevor er fortfuhr. „Und ich wäre hier in Deutschland eine zu große Herausforderung für seinen Sohn Heinrich. Er hat den zehnjährigen Bengel gestern von den Reichsfürsten zum Mitkönig ernennen lassen. Die Krönung soll im April stattfinden.“
Gretlin schluckte beim Gedanken an den verwöhnten, gewalttätigen Jungen, der es liebte seine Umgebung zu malträtieren und seinen Willen durch zu setzen. Und nun als Mitkönig würden ihm alle Möglichkeiten dazu offen stehen.
Friedrich blickte wieder zu dem gehäuteten Heiligen. „Ich gebe mir Mühe und werde wieder zurückkommen. Versuch du hier derweil den größten Schaden zu verhindern. Vielleicht kannst du den Bengel bändigen.“ Er ignorierte ihr protestierendes Schnauben. „Oder deine Lehrmeister mögen dazu in der Lage sein. Ich habe Konrad gebeten, seine Söhne, unseren heiß und innig geliebten Heinrich und seinen kleinen Bruder Friedel ebenfalls von Eberhardt von Katzenelnbogen unterrichten zu lassen. Wenn jemand etwas Verstand in diesen verzogenen Prinzenkopf rein prügeln kann, dann dein Lehrmeister.“
Gretlin stöhnte gequält auf. „Ob das eine gute Idee ist? Eberhardt hält nicht viel von dem Jungen. Und er hasst es Zeit zu vergeuden.“
Friedrich lachte ohne Humor auf. „Ich auch aber so lange er unser zukünftiger König wird müssen wir unsere Einstellung diesbezüglich wohl hinten anstellten.“
Gretlin nickte und Friedrich sah sie fest an. Seine Stimme war leise. „Ich will, dass du mit einem Eheversprechen wartest, Gretlin. Ich ertrag die Vorstellung nicht, dass ich aus dem Heiligen Land zurück komme und du derweil die Frau irgendeines Fürsten geworden bist…Versprich es.“
Gretlin sog scharf die Luft ein. „Du bist verheiratet, Vetter.“
Friedrich griff nach ihrer Hand. „Ich gedenke nicht diese Ehe je zu vollziehen. Sie liebt einen anderen und es gibt immer irgendwo einen guten Grund eine Ehe wieder annullieren zu lassen. So lange man die entsprechende Macht inne hat.“ Ein bitterer Zug legte sich auf seinen Mund. „Versprich es. Das ist nicht zu viel verlangt.“
Gretlin nickte und Friedrich führte ihre Hände kurz zu seinen Lippen.
„Gretlin?“ Ein zögerndes Rufen aus der Mitte des Kirchenschiffes ließ ihn kurzzeitig erstarren. Dann ließ er schlagartig ihre Finger los und trat einen Schritt zurück.
Wieder war eine kindliche Stimme zu hören: „Gretlin? Bist du hier irgendwo?“ Die junge Frau konnte sehen wie Friedrich einen Fluch unterdrückte, sie ein letztes Mal fest ansah und dann auf dem Absatz kehrt machte um die Kirche zu verlassen.
Der Junge, blickte den breitschultrigen Mann, der an ihm vorbei schritt etwas irritiert an und blieb schließlich neben der braunhaarigen Frau stehen. „Hier steckst du also? Verzeih mir, ich wollte nicht stören. Meister Eberhardt sucht dich.“ Es war Jakob, der Bruder des Ghuls Sebastian.
So wie es seine Art war begann der Junge sofort loszuplappern, teilte ihr seine Ansichten zum Gottesdienst und dem Mönch, dessen französischen Namen er kaum aussprechen konnte, mit, erzählte von seinem Bruder und was ihm dessen Meister Gabriel vor kurzem beigebracht hatte. Irgendetwas mit einem Schlingenverband für ausgekugelte Arme…
Gretlin mochte den Jungen und seine unbeschwerte Art, hörte mit einem aufmerksamen Lächeln zu und folgte dem Kind aus der Kathedrale hinaus in die frische Luft.

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Der dunkle finstere Blick der uralten verwitterten Statuen verfolgte sie, stach schmerzhafter in ihren Rücken als die Kälte der finsteren Winternacht, schien etwas in ihrem Inneren zu suchen. Was würden sie sehen?
Sie war froh den hohen Mauern entkommen zu können.

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BeitragVerfasst: Do 7. Jan 2016, 23:23 
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Sechs Monate später, Mai 1147, Regensburg, wenige Tage vor dem Aufbruch zum zweiten Kreuzzug

Gretlin schmiss die Tür hinter sich ins Schloss, so dass es wie ein Donnerschlag durch die langen Gänge des Klosters Sankt Emmeran, das man der königlichen Familie für die Zeit ihres Aufenthalts in Regensburg zur Verfügung gestellte hatte, dröhnte. Wütend stapfte sie durch einen Kreuzgang und blieb zitternd vor Wut an einem Brunnen in einer verschnörkelten Nische stehen.

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Seit sechs Monaten wurden die Königssöhne Heinrich und Friedel bereits von ihrem Herren Eberhardt von Katzenelnbogen unterrichtet. Man hatte Jakob, der ungefähr im gleichen Alter wie der junge Thronfolger war, auf Wunsch des Heilers Gabriel gestattet an den Lehrstunden teilzunehmen und diese Tatsache führte jeden Tag aufs Neue zu Zwist und Problemen, da Heinrich es nur mit äußerstem Widerwillen duldete gemeinsam mit einem Jungen eines niederen Standes unterrichtet zu werden.
Eberhardt erwartete von seinen Schülern Interesse, Fleiß und Fügsamkeit und schien jeden Abend aufs Neue einsehen zu müssen, dass er damit auf taube Ohren stieß: Heinrich stiftete seinen jüngeren Bruder tagtäglich zu Ungehorsam und Streichen an, fand es besonders amüsant statt zu lernen kleine Gehässigkeiten gegen den gleichaltrigen Jakob auszuprobieren, der sich aufgrund seines Standes nicht wehren konnte und Gretlin fragte sich wie lange der Kainit wohl noch gute Mine zum bösen Spiel machen würde.
Sie selbst litt nicht weniger: Es fiel in Gretlin Zuständigkeitsbereich vor jeder Unterrichtsstunde die Aufgaben der Kinder zu kontrollieren und zu besprechen und mit Ausnahme von Jakob war das ein schwieriges, undankbares Unterfangen, denn als Frau wurde sie von dem angehenden König nicht akzeptiert.
Sie war zum einen Ghul, zum anderen die Nichte des Königs. Warum um alles in der Welt musste sie sich tagtäglich so etwas bieten lassen?
Gretlin blickte zu den blühenden Blumen und Kräutern des Klostergartens, die im letzten Sonnenschein des Tages zu leuchten schienen. Von irgendwoher roch sie Flieder, Jasmin und wilden Wein. Sie umklammerte den Rand eines Wasserbeckens, so dass ihre Knöchel weiß wurden. Bevor sie noch etwas vor Wut zertrümmerte…
Ein unterdrücktes Lachen in ihrem Rücken ließ sie herum fahren. Sie erkannte den Ghul Sebastian, der an eine Säule gelehnt da stand und sie amüsiert von oben bis unten musterte. „Wie siehst du denn aus?“
Ein kurzer Anflug von Wut wollte sie übermannen als sie den jungen Mann sah, aber sie konnte sich obwohl sie sich konzentrierte nicht recht erinnern warum. Obwohl das der definitiv falsche Moment war, freute sie sich dennoch ihn zu sehen.
Die schwarze Tinte, die Heinrich auf ihrem Gesicht ausgeleert hatte, lief noch immer an ihren Haaren und Kleidern herab, tropfte auf den edlen Steinboden und das weiße Marmorbecken.
Sebastian schüttelte den Kopf. „Lass raten: Unserem kindlichen Mitkönig Heinrich haben die Schriften von Platon und Sokrates nicht geschmeckt, wie?“
Er trat näher heran und kam neben ihr zum Stehen.
„Nein, Mathematik. Er hält die Berechnung von Strecken für unsinnig, da das Wissen dazu von den Arabern stammt, die sein Vater demnächst bekämpfen wird.“
Der junge Mann verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. „Das kann ich gut verstehen: Man sollte gleich das ganze neuartige arabische Zahlensystem abschaffen. Die Chemie und Arzneikunst der Araber sind auch alles Humbug, ebenso wie die Camera obscura, der von Alhazen beschriebenen Luftdruck und seine Linsen zum Vergrößern von Objekten. Kühlhäuser für die Sommermonate um Nahrung haltbar zu machen? …Braucht keiner…“
Gretlin winkte mit einer Handbewegung ab. „Ja, ja… Alles Humbug.“ Sie holte tief Luft, tauchte dann ihr Gesicht in das klare kalte Wasser des Brunnens ein und wusch sich die Tinte von der Haut. Das Wasser wurde schlagartig schwarz.
Sebastian grinste breit. „Wie hübsch du bist. Beim nächsten Dreikönigstag solltest du den wiesen Mohren Caspar spielen, findest du nicht?“ Er zog ein Taschentuch hervor, hielt es unter den sauberen Wasserstrahl und fuhr ihr über Stirn und Wangen.
Gretlin dankte es ihm mit einer säuerlichen Grimasse. Kurz blickte sie sich um, wusste aber eigentlich bereits ohne den Blick nach links und rechts geworfen zu haben, dass sie alleine waren. Seit Eberhardt sie zu seinem Ghul gemacht hatte vertraute sie mehr auf ihr Gefühl als auf ihre Sinne.
„Ich glaube nicht, dass man Heinrich derzeit wirklich etwas beibringen kann. Der Junge ist so selbstüberzeugt und respektlos. Und keiner wagt es ein Widerwort zu geben. Nicht einmal unser König Konrad käme auf die Idee seinen Sohn ab und an zu ermahnen.“
Sebastian nickte nachdenklich. „Konrad hat in all den Jahren versucht Heinrich zu seinem Nachfolger aufzubauen. Seit er laufen kann, hat man ihm eingetrichtert, dass er König von Gottes Gnaden ist und damit unfehlbar, seine Entscheidungen wie immer er sie trifft, von einer höheren Macht abgesegnet. Das kann in der Art und Weise auf lange Zeit nicht gut gehen.“
Die junge Frau sah ihn an. „Eins verstehe ich nicht: Unsere Meister üben als Berater des Königs tagtäglich großes Einfluss auf ihn aus. Und wenn es keiner laut aussprechen würde, sind sie es doch, die einen großen Teil der Geschicke dieses Landes lenken. Warum haben sie dem allen nicht Einhalt geboten? Dieser wahnwitzigen Idee mit dem Kreuzzug, der Mitregentschaft eines zehnjährigen verzogenen Kindes…? Ein einziger Satz meines Meisters würde genügen und der König würde sofort gehorchen.“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
Sebastian wandte seinen Blick vom schwarzen Wasser zu ihrem Gesicht. „Ich schätze, wenn sich unsere Herren zu offensichtlich in diese Belange einmischen, wird das Verdacht erregen. Die Kirche sucht immer wieder aufs Neue nach ‚Dämonen’ wie ihnen. Und ja, dein Meister Eberhardt kann als Angehöriger des Clans der Hexer Menschen zum Gehorsam zwingen, aber das bleibt nicht unbemerkt. Man gehorcht, ob man will oder nicht, aber man vergisst diesen Moment nie wieder. Und das hat unerwünschte Folgen.“ Er schwieg einen Moment und verzog das Gesicht dann zu einem ironischen Grinsen. „Und wie sagt bereits das Buch der Bücher, Gretlin? Die Wege des Herrn sind unergründlich!“
Gretlin fuhr sich ein letztes Mal mit dem Tuch über das Gesicht und überprüfte, dass es sich nicht erneut schwarz färbte. „Ich muss zurück in die Bibliothek bevor die Kinder noch die Bücher in Brand stecken und zu dem Freudenfeuer tanzen.“
Sebastian hielt sie am Arm zurück bevor sie sich abwenden konnte und hielt ihr eine Schriftrolle entgegen. „Die ist von Oswald, dem guten malkavianischen Freund unserer Herren. Es enthält seine Aufzeichnungen über die Sternbewegungen der letzten Monate. Er hat mich gebeten morgen früh bei Sonnenaufgang die genaue Position von Mars, Jupiter und Venus zur Sonne zu bestimmen, weil er hofft damit die schlimmsten Schicksalsschläge des Kreuzzuges vorhersehen zu können.“ Er drückte ihr das Pergament in die Hand. „Kommst du mit?“

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Gretlin kribbelte es in den Fingerspitzen. Zu gern hätte sie die Schriftrolle sofort geöffnet und mit dem Lesen begonnen, doch sie nickte und verstaute das Pergament stattdessen in einer ihrer Taschen, die nicht allzu nass geworden war.
Sie grinste. „Das weißt du doch, oder?“


Sebastian begleitete sie ohne zu fragen zurück zu den Unterrichtszimmern. Die Jungen hatten längst ihre Bücher und Hefte zusammen gerafft und verstaut. Sie wussten durch den Glockenschlag zur fünften Stunde, dass die Übungskontrollen durch Gretlin vorbei waren und sie bis zur weiteren Lehrstunde durch Eberhardt zwei Stunden Zeit zur freien Verfügung hatten. Gretlin stand neben Sebastian und sah seufzend zu wie die Jungen den Raum verließen. Wenigstens waren die Bücher heil geblieben und nichts Weiteres zu Bruch gegangen.

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Jakob blickte sie mitleidig an und versuchte ein aufmunterndes Lächeln. Gretlin unterdrückte ein Aufstöhnen. Selbst ein zehnjähriger Waisenjunge hatte Mitleid mit ihr… Wundervoll…
Heinrich stieß seinen jüngeren Bruder mit der Tasche, die seine Bücher enthielt, etwas rüpelhaft von der Seite an.

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„Und Friedel? Sollen wir in der Küche vorbei schauen und uns beim Honigkuchen und Met bedienen, die die Küchenmägde für das Festgelage später vorbereiten? Wir könnten ein wenig Unruhe in der Küche stiften.“ Der Junge grinste breit.
Der jüngere Bruder blickte etwas scheu zu Jakob, dann wieder zu Heinrich. Er schien zu überlegen. Er wich dessen Blick aus als er antwortete. „Jakob hat auf dem Markt einen Stand entdeckt, der ganz viele Chemikalien und Arzneien aus dem Osten verkauft. Er meint, es passieren allerlei lustige Sachen, wenn man die miteinander mischt. Sie werden bunt, manches verpufft mit einer stinkenden Rauchwolke. Ich möchte gern mit ihm schauen gehen, was es da so gibt.“
Der Thronfolger sah Friedel ungläubig und voller Gerinnschätzung an. „Soll das ein Witz sein? Du gehst lieber mit diesem bettelnden, verwaisten Schreibersohn auf den Markt statt mit mir in die Küche?“
Gretlin bemerkte, wie sich Sebastian neben ihr bei dieser Bemerkung über seinen Bruder straffte. Mit einer kaum merkbaren Handbewegung hielt sie ihn zurück.
Der zweitgeborene Königssohn schluckte, hob dann den Blick und sah seinen Bruder so lange es ihm möglich war an. „Ich habe keinen Hunger und will nicht in die Küche. Ich gehe mit Jakob auf den Markt.“
Heinrich lief puterrot an. Er funkelte Jakob wütend an, ballte die Hände zu Fäusten als wolle er im nächsten Moment jemanden schlagen. Gretlin konnte erkennen, dass er kurz davor war laut loszuschreien. Der Anblick des wutschnaubenden, aufmüpfigen Jungen, der ausnahmsweise mal nicht seinen Willen bekam, war göttlich. Sie versuchte ein Lachen zu unterdrücken, doch es gelang ihr nicht. Sie begann loszuprusten und merkte, dass Sebastian in ihr Lachen einstimmte. Auch Jakob konnte sich ein gehässiges Grinsen nicht verkneifen.
Heinrich sah die Leute um sich herum ungläubig an. Dann schrie er seinen Bruder an. „Dann geh’ doch. Wirst schon sehen, was du davon hast.“ Er streckte den Erwachsenen seine Faust entgegen. „Und ihr auch!“ Dann stürmte er davon.
Gretlin spürte ein kaum merkliches warnendes Pochen hinter den Schläfen, doch sie unterdrückte es. Kichernd sah sie den Jungen hinterher als sie gemeinsam die Bibliothek verließen. Sie warf einen Blick zu Sebastian, dem es noch immer schwer viel das Lachen zu unterdrücken, und stieß ihn an. „Lass uns gehen!“

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Gretlin und Sebastian kämpften sich durch die dicht gedrängten Straßen von Regensburg. Überall lagerten bewaffnete Männer in den Farben ihrer Lehnsherren. Mächtige, furchteinflößende Kriegsrösser stapften über die gigantischen steinernen Brücken der Stadt und die einfachen Bürger taten gut daran im letzten Moment vor den Tieren und ihren Herren in strahlenden Rüstungen zur Seite zu springen bevor sie unter den Hufen zertrampelt werden konnten. Ein Kriegsross, das wusste Gretlin, war für genau solche Kampfsituationen ausgebildet. Überall boten Händler zu überteuerten Preisen Waren feil, die laut ihren gellenden Rufen lebensnotwendig im ‚Heiligen Land’ waren: löchrige Stiefel, von Flöhen bewohnte Decken, ein Kreuz, das der Heilige Bonifazius mit eigenen Händen aus der heidnischen Donareiche geschnitzt und damit geheiligt hatte.
Überall waren zusammen gedrängte Männer, Frauen, ganze Familien auszumachen, die sich dem Kreuzfahrertross anschließen wollten, weil sie sich im Heiligen Land ein besseres, gottgerechtes Leben versprachen. Arme zerlumpte Bettler, bunt gekleidete Edelmänner, grell geschminkte Marketenderinnen, grunzende, brüllende und wiehernde Tiere jeder Größe…
In dem Gewühl fielen die beiden Ghule nicht weiter auf und Gretlin wusste, dass sie mittlerweile mithilfe des kainitischen Blutes im Notfall eine ernstzunehmende Gegnerin darstellen konnte. Allein ihr Blick und ihr Wort vermochten einen Feind zum Einhalten zu zwingen. Nichtsdestotrotz hatten sie sowohl Sebastian als auch ihr Meister gewarnt, dass die dunklen Gaben nicht leichtfertig eingesetzt werden durften.



Gretlin und Sebastian verließen die mächtige Stadt durch das Westtor und bestiegen nach mehreren Meilen Fußmarsch einen der mächtigen Kalksteinhügel an dessen Fuß die dunklen Wasser der Donau gemächlich vorbei flossen. Die ganze Nacht saßen sie neben einer kleinen provisorischen Hütte, die bei schlechtem Wetter als Regenunterstand dienen konnte, analysierten die Sternbilder und den Weg der Planeten, machten Aufzeichnungen, diskutierten alte Schriften, die sie auf Anordnung ihrer Herren hatten lesen müssen, lachten über das Gesicht des Thronfolgers, besprachen die Eigenarten ihrer Herren, ihre Befürchtungen bezüglich des bevorstehenden Kreuzzuges und erzählten sich schließlich alte Geschichten, die sie irgendwann mal irgendwo gehört hatten um sich gegenseitig wach zu halten.
Gretlin schlief zu guter letzt doch ein und wurde schließlich mit einem leichten Rütteln von Sebastian geweckt. „Aufwachen! Die Sonne geht gleich auf. Ich würd’ vorschlagen, du behältst den Morgenstern im Auge, ich notiere die Position von Mars und Jupiter. Einverstanden?“
Gretlin reckte sich mühsam, wischte sich den Tau aus den Haaren und wickelte sich gegen die morgendliche Kühle noch fester in ihre Decke.
Dann griff sie nach einem Stück dünner Kohle, dokumentierte alles, was nötig war, zeichnete eine Kurve durch die Punkte, die den Sternen entsprechen sollten, um die Bahn des Planeten fest zu halten.
Am Horizont ging die Sonne auf und tauchte die Kalkfelsen, den Fluss und die Wälder in goldenes Licht. Nebel hing zwischen den Baumwipfeln wie weiße Schleier und verlieh der Welt etwas seltsam Unwirkliches. Die Luft erschien ihr so klar wie feinstes Glas.

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Gretlin hielt inne und sog tief die Luft ein, die nach Kiefern und Waldboden roch. Sie ließ den Kohlestift sinken und verstaute die Schreibutensilien in einer Tasche.
Sebastian zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. „Du bist schon fertig?“
Gretlin nickte und schlang die Arme um die Beine und legte dann den Kopf auf die Knie. „Das ist viel zu schön und kein Stift der Welt kann das einfangen.“
Der schlaksige braunhaarige Mann nickte und verstaute sein Schreibgerät ebenfalls. Er lehnte den Kopf an die Außenwand des Häuschens.
„Gretlin? Wenn ich mit Gabriel in den Kreuzzug ziehe, kannst du dann ein Auge auf Jakob haben?“
Die junge Frau fuhr erschrocken zu Sebastian herum.
„Du ziehst in den Kreuzzug? Warum? Du bist kein Krieger und auch kein fertig ausgebildeter Heiler.“
Er strich sich die Haare zurück und nickte. „Nein, das bin ich nicht. Aber Konrad besteht darauf, dass mein Meister, Gabriel, als sein Heiler mit ihm zieht. Und Gabriel braucht mich. Er braucht zwei Augen und zwei Ohren, die auch tagsüber seine Order ausführen können.“
Gretlin holte mühsam Luft.
Sebastian grinste sie von der Seite an. „Hey. Du wirst mich doch nicht etwa vermissen?“
Die junge Frau zog eine Grimasse. „Wohl kaum…“ Sie zuckte mit den Schultern und versuchte so gleichgültig wie möglich zu wirken. „Aber Jakob mit Sicherheit. Du bist sein Bruder und sein großes Vorbild. Er braucht jemand, der auf ihn aufpasst und auf den er sich verlassen kann.“
Wieder folgte ein Nicken von Seiten ihres Gegenübers. „Richtig. Und dafür bist du genau die Richtige.“
Gretlin grinste dankbar. „Ich pass auf ihn auf. Versprochen.“
Der junge Mann hielt ihr die Rechte hin. „Hand drauf?“
Die braunhaarige Frau nickte bestätigend und ergriff die Finger. „Hand drauf.“

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Dann erhob sie sich und begann ihre Sachen aus dem dichten Gras zusammen zu suchen. Auch Sebastian stand auf und griff nach seiner Tasche.
„Danke, Gretlin.“ Plötzlich kam er auf sie zu, zog sie an sich, zögerte einen winzigen Augenblick und drückte dann seine Lippen auf die ihren. Sie spürte seine Wärme, nahm seinen schwachen Geruch nach Waldboden, Moos, altem Pergament, Thymian, Lavendel und Minze wahr, das kaum merkliche Kratzen seiner Bartstoppeln.

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Ihr Herz schien einen Moment auszusetzen. Dann stieß sie ihn von sich. Sie suchte nach den richtigen Sätzen, aber heraus kam nur ein entrüstetes Schnauben. „Wie kannst du es wagen, Sebastian?“ Ihre Worte, das hörte selbst sie, kamen stockend und klangen halbherzig.
Er grinste sie breit an, doch in seinen Augen konnte sie ein Zweifeln erkennen. „Warum? Weil ich nur der verwaiste Sohn eines einfachen Schreibers bin?“ Er wiederholte die Worte, die Heinrich noch am letzten Abend ausgesprochen hatte um Jakob zu demütigen, und wusste, dass er sie genau daran erinnern wollte. „Und du die hochwohlgeborene Nichte des Königs?“
Er wandte ihr den Rücken zu und zuckte gespielt lässig mit den Schultern. „Wir sind beide viel mehr, aber das hast du anscheinend bisher noch nicht einsehen wollen. König Konrad, die ganzen Hochwohlgeborenen, Heinrich… wenn sie längst vergangen sind werden du und ich immer noch hier sein, immer noch unter diesem Himmel wandeln...“ Er drehte sich wieder zu ihr um, versuchte sich nichts anzumerken zu lassen und wartete darauf, dass sie zu ihm aufschloss.
Sie hob das Kinn. „Was macht dich da so sicher, Sebastian? Wir beide sind auf Gedeih und Verderb unseren Herren ausgeliefert. Mein Herr ist ein egozentrischer, bücherliebender Hexer, der am liebsten die Zukunft der ganzen Welt planen würde, dein Herr ein machtbesessener Ventrue und ihr bester Freund ein Malkavianer bei dem Witz, Irrsinn und Vernunft fließend ineinander übergehen und man nie sicher gehen kann wo das eine endet und das nächste beginnt.“
Der junge Mann sah sie entrüstet an. „Mein Herr ist ein Ehrenmann. Er hat Jakob und mich gerettet, ist mein Lehrer, so etwas wie ein Vater für mich. Er würde nichts tun, was uns schadet.“
Gretlin unterdrückte ein Seufzen, denn sie wusste, in dieser Hinsicht war ihr Freund eisern. „Sebastian? Gabriel ist ein Kainit wie alle anderen auch und du bist sein Ghul. Er wäre nicht seit so langer Zeit am Unleben, wenn er sich nicht das beschaffen könnte, was er braucht.“
Die Antwort kam prompt. „Ich würde alles für ihn tun.“
Gretlin schüttelte den Kopf. „Selbstverständlich. Und was geschieht, wenn er irgendwann einmal nicht mit dem, was du getan hast zufrieden sein wird? Wenn du etwas tust, das ihm nicht gefällt?“
Sebastian schluckte, schien einen Moment nachzudenken. Dann war wieder das Grinsen auf seinen Zügen zu erkennen. „An was denkst du jetzt? An das Küssen von Töchtern hochwohlgeborener Fürsten?“ Er riss ein paar weiße Blüten von einem Busch und ließ sie wie eine spöttische Geste der Huldigung auf Gretlin nieder regnen. Dann sah er sie herausfordernd an. „Ich würde vorschlagen, du sagst einfach deinem geliebten Vetter Friedrich Bescheid. Ich bin mir sicher, für dieses Vergehen wirft er mir noch heute den Fehdehandschuh vor die Füße und fordert mich zum ehrenhaften Zweikampf auf Leben und Tod auf. Dann wärst du das Problem los, denn er enthauptet mich sicher mit einem einzigen Streich seines Schwertes. Immerhin muss er seine Jungfrau verteidigen, nicht wahr.“
Gretlin stieß ihn fest in die Seite, grinste zurück und drohte. „Warte nur, vielleicht mach ich das noch.“

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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BeitragVerfasst: Sa 9. Jan 2016, 16:02 
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Der zweite Kreuzzug brach mit rund 26000 Kreuzfahrern von Regensburg auf. Der französische König ritt wenige Wochen später in den ‚Heiligen Krieg’. Der Tross wurde von unzähligen unbewaffneter Pilger, Frauen und Kindern begleitet, die das Vorwärtskommen und die Verpflegung deutlich erschwerten. Dennoch verlief der Marsch durch Ungarn und das byzantinische Reich zunächst für beide Heere friedlich und geordnet.
Entgegen vorheriger Absprachen entschied sich König Konrad mehrere Monate später bei seiner Ankunft in Konstantinopel dazu nicht auf die französischen Armeen zu warten, sondern schon weiter gen ‚Heiliges Land’ zu ziehen. Das war einer seiner ersten Fehler. Viele weitere sollten folgen. Trotz fehlender Unterstützung des Königreichs Byzanz, das einen Friedensvertrag mit den Feinden hatte schließen müssen, trennte er das Heer in einen kampferprobten Teil aus Soldaten und Rittern und einen unbewaffneten Teil. Beide reisten getrennt voneinander und wurden schnell in Kämpfe mit türkischen Seldschuken verwickelt, die in schweren Niederlagen für die Kreuzfahrer gipfelten.
Das Blutbad, das dabei angerichtet wurde, war noch viele Jahrzehnte Gesprächsstoff für grausame Geschichten am Lagerfeuer. Der König floh mit seinen verbleibenden Kreuzfahrern nach Nicäa, unweit von Konstantinopel, um sich dort mit den französischen Truppen zu vereinen.

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Gretlin erfuhr von ihrem Meister, Eberhardt von Katzenelnbogen, über die Vorgänge im Osten. Sie wusste nicht wie, aber ihm standen Möglichkeiten zur Verfügung sich mit Gabriel, der bei den engsten Getreuen des Königs mitreiste, zu verständigen. Was hätte sie dafür gegeben selbst über solche Wege zu kommunizieren.
Sie vermisste ihren Vater, ihren stets gut gelaunten Vetter Friedrich, den wissbegierigen, ihr gegenüber nur zu gern überheblichen Ghul Sebastian. Ihn wohl am meisten, denn von allen Menschen war er der einzige, der das gleiche dunkle Geheimnis wie sie teilte und der einzige bei dem sie das Gefühl hatte, dass er sie wirklich verstehen konnte.
Da Gretlin die Menschen, die ihr wirklich etwas bedeuteten, fehlten, zog sie sich nach und nach immer mehr in die Welt der Bücher zurück. Sie studierte alte Schriften, bekam von Eberhardt dicke Wälzer vor die Nase gesetzt, die sie nach verborgenem Wissen analysieren sollte. Sie liebte es sich mit jeder einzelnen Seite zu beschäftigen, den Geruch einzuatmen, mit den Fingern die kleinsten Unebenheiten im Pergament oder Papier zu ertasten, die ihre eigene Geschichte erzählten und die Federführung des Schreibers zu betrachten. Jedes Buch schien fast so etwas wie eine eigene Seele zu besitzen, wenn man bereit war nur wahrhaft danach zu suchen.
Tage und nächtelang brütete sie über schweren Folianten und einzelnen herausgerissenen Seiten. Kleine Staubwolken stoben in die Luft, wann immer sie eine Seite umblätterte, große graue stiegen auf, wenn sie einen Stapel Bücher umschichtete, um zu schauen, was sich noch darunter verbergen mochte. Nur das Erlöschen der stets brennenden Talgkerze, die ihr Licht spendete, mahnte sie daran, dass es auch eine Zeit zum Ausruhen geben musste.
Eberhardt belohnte sie für ihren Fleiß in dem er sie mit der Vorbereitung für wichtige Rituale betraute, sie immer und immer wieder lange Phrasen in Griechisch oder Hebräisch rezitieren ließ, bis ihre Melodie für sie so vertraut klang wie ein Wiegenlied zur Schlafenszeit. Er lehrte sie den ‚Sinn für Blut’ bis Gretlin in seinem Auftrag das Blut von Sterblichen und Kainiten analysierte und ihm das Wissen in der kommenden Nacht unterbreitete.
Am Anfang hatte sie, so, wie Sebastian versprochen, ein Auge auf Jakob gehabt und sich wie eine Schwester um den Jungen gekümmert. Dem Wunsch des Heilers Gabriel ihn in der Zeit seiner Abwesenheit bei einem befreundeten jüdischen Apotheker ausbilden zu lassen, wurde jedoch vom kindlichen Mitkönig Heinrich unterbunden. Er verbot die Lehre bei einem heidnischen Juden und beanspruchte Jakob als seinen persönlichen Kammerdiener. Er nutzte jede Gelegenheit den Jungen zu demütigen, nahm sich heraus, ihn zu prügeln, wenn er seine Arbeiten in den Augen des Thronfolgers nicht zufriedenstellend erledigte und ersann täglich neue Gemeinheiten.
Gretlin versuchte einzugreifen, doch sie musste schon nach kürzester Zeit einsehen, dass sie Heinrichs Treiben machtlos gegenüberstand und Eberhardt interessierte sich nicht für die Belange des einfachen königlichen Dieners. Ihr Herr versuchte genau wie die anderen mächtigen Adeligen des Reiches auf den kindlichen Mitkönig einzuwirken um in der Zeit der Abwesenheit von König Konrad die schlimmsten Desaster für das Reich zu verhindern. Doch selbst der Erzbischof von Mainz, der als offizieller Verwalter des Königreiches eingesetzt war, hatte Mühe damit für seine dringlichen Angelegenheiten das Gehör des Kindkönigs zu erlangen.
Wenn es Jakob in seltenen Momenten glückte erfolgreich vor seinen Arbeiten zu fliehen saß er meist mit Gretlin in der Bibliothek und ließ sich im Lesen und Schreiben unterrichten. Der Junge hatte eine schnelle Auffassungsgabe und lernte rasch, doch seine Leidenschaft das wusste sie, galt eigentlich nicht dem geschriebenen Wort, sondern der Anerkennung seines Bruder, der großen Wert auf diese Kenntnisse legte. Grübelnd, den Kopf auf der Tischplatte des Schreibpults gelegt, hörte er ihr zu, kommentierte ihren Lehrstoff und schlief meist nach kurzer Zeit erschöpft neben seinem Schreibzeug ein.
Während sich König Konrad und der französische König Ludwig am 8. Juni 1148 gemeinsam mit Balduin III von Jerusalem in Akkon trafen um über das weitere Vorgehen des Kreuzzuges zu beraten und sich schließlich um überhaupt irgendeine Art von Sieg davon zu tragen, dazu entschieden die neutrale, den Kreuzfahrern eigentlich friedlich gesinnte Stadt Damaskus anzugreifen, was sich später als größte Fehlentscheidung des Kreuzzuges erweisen sollte, stahlen sich Gretlin und Jakob noch in der Dämmerung des beginnenden Tages zum breiten Strom, der an der Stadt vorbei floss. Sie ließen in Erinnerung an andere Zeiten Kiesel über die Wasseroberfläche springen, lachten und versuchten das, was um sie herum geschah für einige Stunden zu vergessen. Jakob gelang es nicht rechtzeitig zum Erwachen des Kronprinzen wieder in der Burg zu sein und erhielt fünfzehn kräftige Stockschläge für seine Nachlässigkeit. Trotzig erklärte er Gretlin später einmal, das wäre es wert gewesen.

Die Eroberung von Damaskus dauerte nur 4 Tage. Uneinigkeiten der Befehlshaber, die tödliche Hitze und Wassermangel schwächten das Heer und die Belagerung wurde abgebrochen.

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Im August, zum gleichen Zeitpunkt während sich die verbleibenden Truppen nach Jerusalem zurückzogen, erkrankte in Deutschland der junge Thronfolger Heinrich schwer an Cholera. Viele Heiler wurden hinzugezogen um eine Genesung zu bewerkstelligen, aber ihr Erfolg hielt sich in entmutigenden Grenzen.
Gretlin spürte tiefsten Widerwillen als Eberhardt ihr mitteilte er habe seinen Freund, den Heiler Gabriel, und über diesen ihren Onkel, den König, über den Zustand des zwölfjährigen Mitregenten informiert. Auch wenn es sich bei Heinrich vom Blut her um einen Vetter handelte, wünschte sie doch, dieses eine Mal Gott selbst entscheiden zu lassen.
Ihr Wunsch wurde nicht erhört: Für Gretlin fast unvorstellbar, ritt Gabriel begleitet von seinem Ghul, bereits wenige Tage nachdem die Mitteilung das Heilige Land erreicht hatte, durch die breiten Stadttore von Mainz. Auch wenn sie wusste, die Heilung des Thronfolgers würde nun entgegen ihrer Hoffung gelingen. So war sie doch so erfreut darüber ein vertrautes, freundliches Gesicht zu sehen, dass sie Sebastian am liebsten um den Hals gefallen wäre. Aber sie hielt sich zurück.
Gabriel wachte des Nachts, sein Diener Sebastian tagsüber am Bett des Kronprinzen. Sie senkten sein Fieber mit in Essig getauchten Tüchern, flößten ihm wann immer möglich warmen Kamillentee ein und nötigten ihn dazu nahrhafte, leicht bekömmliche Speisen zu sich zu nehmen, die der Junge meist bereits nach wenigen Minuten wieder erbrach. Gretlin wusste, es waren nicht die Arzneien und lindernden Maßnahmen, die zu Guter letzt für die Heilung des Mitkönigs verantwortlich waren, sondern allein die Kräfte des Kainiten.
Gretlin wartete lange darauf, dass Sebastian, wie es immer für ihn typisch gewesen war, seinen Kopf durch die Tür der Bibliothek stecken würde, doch er erschien nie. In den ersten Tagen war sie noch zu stolz und eigensinnig um sich nach ihm zu erkundigen, doch dann versuchte sie ihm zufällig in den Gängen der Festung zu begegnen. Sie erkannte rasch, dass er seine Wege geändert haben musste, denn sie erblickte tagtäglich ganze Heerscharen von Dienervolk, Adeligen, Gelehrten, freundlichen und griesgrämigen Gesichtern, aber das des Ghuls befand sich nie darunter. Schließlich überwand sie sogar ihren Widerwillen und erlaubte sich selbst die Dreistigkeit ihn in seiner kleinen Kammer in der Nähe der Stallungen, die er mit Jakob bewohnte, aufzusuchen. Obwohl er, das wusste sie, zu Hause war, ließ er sich von seinem Bruder als unpässlich entschuldigen und Gretlin schämte sich als sie den entschuldigenden Blick von Jakob bemerkte. Sie stand wohl eine Minute unschlüssig an der Türschwelle, wie bestellt und nicht abgeholt, dann machte sie zutiefst gekränkt auf dem Absatz kehrt und hastete davon.
In all den Monaten, die folgen sollten, ging sie fortan dem Ghul des Heilers aus dem Weg. Sie war zu stolz um noch einmal das unerklärliche Schweigen zu brechen, das sich zwischen den beiden Dienern der Kainiten aufgebaut hatte.
Im Juni 1249 kam es schließlich zu dem Ereignis, das für Gretlin alles verändern sollte. Der Begebenheit, die ihre Ziele und Ideale in Frage stellte, ihre moralischen Vorstellungen zerriss, einen Hass in ihr schürte von dem sie nicht wusste, dass sie ihn je empfinden konnte.

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