Vampire: Die Maskerade


Eine Welt der Dunkelheit
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BeitragVerfasst: Mi 13. Mai 2015, 16:03 
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Homo homini lupus est

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf

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Verfasst: Mi 13. Mai 2015, 16:03 


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BeitragVerfasst: Mi 13. Mai 2015, 16:07 
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Kapitel I
Nimes, Februrar 1066


Die Wirtsstube leerte sich langsam. Es war bereits nach Mitternacht und langsam wurde es stiller. Der kleine Junge wusch ein paar Bierhumpen ab, kletterte auf einen Stuhl und streckte sich mit Mühe um sie zu den gerade eben gewaschenen Tellern in ein hohes Regal zu stellen. Er wischte mit einem dreckigen Lappen die Tische und klaubte einige Essensreste vom Boden auf. Ein älterer Mann wandte sich vor dem Nach draußen Gehen noch einmal um und sah ihn schief an. „Euer Essen war der absolute Schweinefraß. Ekelhaft…wie immer. Bis morgen.“ Mit diesen Worten spie er auf den Boden und ließ zum Abschied noch einen fahren. Der Junge strich sich seufzend das braune Haar aus der Stirn, griff nach dem Lappen und machte sich mit angewidertem Gesichtsausdruck daran die Spucke vom Boden zu wischen.
Die Arbeit war fast getan und bald konnte er zu Bett gehen. Morgen früh bei Sonnenaufgang hieß es zwar wieder aufstehen, aber ein bisschen Ruhe hatte er sich mehr als verdient. Seine Muskeln schmerzten von der schweren Arbeit und sein Gesicht brannte von den Ohrfeigen, die ihm zwei Gäste verpasst hatten als er nicht schnell genug die Weingläser abgestellt hatte. Er sah sich nach seiner Tante und seinem Onkel um, die aber wahrscheinlich schon zu Bett gegangen waren und war erleichtert als er sie nicht mehr erblickte. Er verschloss die Tür, sah sich ein letztes Mal in der Wirtsstube um und löschte dann das Licht. Alles war geordnet und sauber. Da konnten morgen früh die ersten Zecher für den Morgenhumpen vorbei kommen. Meistens blieben diese Männer auch bis zum Abend, zusammengesunken über ihrem Schnapsglas, in dem sie ihren Frust und Kummer ersäufen wollten und damit die Taschen seines Onkels, des Wirts füllten.

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Er machte sich auf zum kleinen Schlafgemach, öffnete so leise es ihm möglich war und schlüpfte in sein Bett und unter die Decke. Er wollte nicht, dass seine neunjährige Cousine aufwachte deren leise Atemzüge er in der Stille hören konnte. Der kleine Junge griff fester nach seiner löchrigen Decke und zog sie sich bis über den Hals. Er fror in dem kalten Zimmer und unterdrückte nur mit Mühe das Klappern seiner Zähne. Draußen war es Februar und bitter kalt. Die Fenster waren nicht verglast sondern mit Vorhängen verschlossen die aus mehr Löchern als Stoff zu bestehen schienen und Holzbretter waren von außen davor genagelt worden. Es zog erbärmlich. Dann hörte er die hohe Stimme des kleinen Mädchens. „Lucien? Bist du noch wach?“ Der Elfjährige unterdrückte ein Seufzen und drehte sich zu ihr um. „Ja, bin ich. Du solltest doch schlafen, Julianne.“ Das braunhaarige Mädchen war in der Dunkelheit kaum zu erkennen, doch hörte er wie sie ebenfalls nach der Decke griff. „Ich kann nicht. Mir ist so kalt und ich hab solchen Hunger.“ Wie zur Bestätigung hörte er ihren knurrenden Magen. Kurz entschlossen glitt er aus dem mit Strohsäcken gefüllten Holzgestell, das seine Tante und sein Onkel als Bett bezeichneten und erhob sich. „Ich geh mal in der Küche schauen, ob ich was für dich finde.“ Die Stimme des Mädchens verriet Panik. „Das darfst du nicht. Wenn dich Papa in der Küche erwischt wie du Essensreste stibitzt dann schlägt er dich windelweich. Bleib hier!“ Der dunkelhaarige Junge schüttelte den Kopf obwohl sie das im Dunkeln nicht erkennen konnte und wandte sich zur Tür. „Bin gleich wieder hier.“ Mit diesen Worten schlüpfte er aus dem Zimmer und schlich barfuss durch die dunklen eisigen Flure zur großen Küche. Er wusste genau, warum sich die Kinder nicht an den Essensresten der Gäste zu schaffen machen durften. Die abgenagten Knochen wurden fein säuberlich geputzt und im Gulasch verarbeitet, die Brotkrumen gesammelt und verfaulte Salatblätter noch einmal als Krautsalat serviert. So leise es ihm möglich war, öffnete er die Tür und trat an den großen Abfalleimer. Er fischte einige trockene Brotränder heraus und schob sie in seine Tasche. Nicht zu viele, denn dann würde seine Tante Verdacht schöpfen, das wusste er aus schmerzlicher Erfahrung. Er machte sich wieder auf den Weg zum Zimmer der Kinder als er plötzlich Stimmen aus dem Schlafzimmer seiner Zieheltern vernahm. Als er seinen Namen hörte konnte er den Impuls nicht unterdrücken und trat näher. Obwohl gedämpft war die Stimme seines Onkels durch die Tür gut zu vernehmen. „Der Junge ist uns nur eine Last und frisst uns die Haare vom Kopf. Seine edle Mutter hat ja auch schon seit Monaten keinen Heller mehr zur Unterstützung für den Satansbraten geschickt. Elendes Flittchen. Die hielt sich schon immer für was Besseres. Und dann hat er sich letztens noch beim Klauen erwischen lassen. Was sollen denn die Gäste denken? Wenn sich das rumspricht kommt doch kein Kunde mehr. Dem letzen musst ich ein ordentliches Schweigegeld zahlen. Das spart sich der Junge am Mund ab, damit dir das klar ist! Du immer mit deinem weichen Herz.“ Der kleine Junge fragte sich, was sein Onkel wohl mit weichem Herz meinte und dachte an die Ohrfeigen und Stockschläge, die er regelmäßig von seiner Tante bezog, wenn er nicht schnell genug arbeitete. Dann vernahm er die Stimme der rundlichen Wirtin, seiner Tante: „Nun ja, du hast den Jungen doch zum Klauen angestiftet. Und es fehlt ihm halt noch an Übung.“ Die Antwort kam prompt und laut. „Dem fehlt’s nicht an Übung. Der Bub ist ein Tunichtgut und für uns alle eine Belastung. Morgen bring ich ihn zum Gerber. Der kann nen Burschen gebrauchen. Der letzte ist erst vor zwei Tagen an Milzbrand gestorben, den er sich bei der Arbeit mit dem verfaulenden Fleisch und den giftigen Gerbstoffen geholt hat. Der zahlt gut für Lucien.“

Der kleine Junge begann am ganzen Leib zu zittern und Panik stieg in ihm auf. Der Gerber? Er wusste genau, was das bedeutete. Er war nicht dumm. Der letzte Junge hatte erst vor zwei Monaten seiner Dienst bei dem rauen gewalttätigen Handwerker begonnen und schon hatte ihn wie auch seinen Vorgänger eine Krankheit dahin gerafft. Er biss sich auf die Lippen bis er Blut schmeckte um die Tränen zurück zu halten. Dann schlich er zurück in das kleine Zimmer wo seine Cousine bereits auf ihn wartete. Er trat an ihr Bett und versuchte ein Lächeln während er ihr das trockene Brot reichte. Sie richtete sich auf und drückte ihn fest an sich. „Danke, Lucien.“ Seine Stimme war ein leises Flüstern. „Immer doch.“ Er hörte wie sie an den Brotkrumen nagte und das Klappern ihrer Zähne. Mit unterdrücktem Seufzen griff er nach seiner löchrigen Decke und legte sie dem kleinen Mädchen um die Schultern. „Schlaf ein wenig, Julianna.“ Dann ging er zurück zu seiner Bettstatt, suchte sich die wenigen zerlumpten Kleidungsstücke, die er besaß zusammen und versuchte daraus so etwas wie eine Decke zu schaffen aber es gelang ihm nicht recht. Er lag lang wach in der Schwärze der Nacht, zitterte vor Kälte und Verzweiflung und versuchte sich das liebe Gesicht seiner Mutter vor Augen zu rufen, das er fast vergessen hatte. Das half ihm meistens beim Einschlafen.

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Zuletzt geändert von Lucien am Mi 13. Mai 2015, 17:14, insgesamt 3-mal geändert.

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BeitragVerfasst: Mi 13. Mai 2015, 16:14 
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Kapitel II
Nimes, August 1066

Der kleine Junge rannte durch die Straßen Nimes. Ab und zu griffen einige wütende Händler nach ihm wenn er in ihre Auslagen gerannt und alles umgeworfen hatte, aber das war ihm egal und er war flink genug sich rechtzeitig zu ducken oder zur Seite zu springen. Die Sonne senkte sich über den Dächern der Häuser herab und bald würde es dunkel werden. Lucien stank widerwärtig von der Arbeit in der Gerberei aber seine Nase war nach zwei Monaten der elendigen Arbeit so abgestumpft, dass er es selbst gar nicht mehr bemerkte. Seine Kleider trieften vom Urin und vom Kalkmehr, das man für das Gerben verwendete und ihnen haftete der Geruch nach Verwesung an, den man auch mit noch so häufigem Waschen nicht mehr entfernt bekam. Er unterdrückte die Tränen, die in ihm aufsteigen wollten. Heute war der zweite Junge, der mit ihm an den Bottichen gestanden und das Leder eingewalkt hatte verstorben. Vor sechs Wochen der 13 jährige Francois, heute der schwarzhaarige Gerald, mit dem er sich immer fantastische Geschichten erzählt hatte um zu vergessen, was sie taten und die Arbeit schneller hinter sich zu bringen. Seine Hände waren von den ätzenden Substanzen, die verwendet wurden schwielig und vernarbt. Er dachte an die leeren toten Tieraugen, die ihn in der Gerberei von allen Seiten aus anstarrten, die rauen brutalen Gesellen, die den Tieren die Haut vom Fleisch rissen und das, was nicht mehr verwendet wurde auf den Müll warfen, die Frühlingslämmer, die vor der Gerberei in einem Gatter zusammengezwängt standen, hilflos nach ihrer Mutter blökten und nicht wussten, dass sie am nächsten Morgen als nächstes dran kommen würden. Die großen dunklen Augen mit denen sie ihn, so schien es ihm, hilfesuchend anschauten.

Er ließ die reichen Straßen in der Nähe des mächtigen römischen Amphitheater hinter sich und schlug den Weg in das ärmere Viertel ein indem das Gasthaus, (name einfügen) seiner Zieheltern stand. Er riss hektisch die Eingangstür auf und sofort schlug ihm der modrige Geruch nach schlecht gelüftetem Raum, ungewaschenen verschwitzten Menschen, ranziger Bratensoße und saurem Wein entgegen. Sein Onkel stand an der Theke, schenkte fünf reich gekleideten Edelleuten, die sich scheinbar in die heruntergekommene Taverne verirrt haben mussten sein Gebräu ein und lachte laut. Das schien das Geschäft des Abends für seinen Onkel zu werden. Er erblickte den kleinen Jungen und seine Augen sprühten vor Zorn auch wenn das steife Lächeln nach wie vor auf seinem Gesicht gefror.

Er ging auf Lucien zu und umarmte den Jungen in scheinbar freudiger Erwartung. „Wie war es auf der Arbeit, mein Junge?“ Zischen und kaum hörbar fügte er hinzu. „Du verdammter Bengel bist fortgelaufen, nicht wahr?“ Der braunhaarige Junge versuchte sich gerade zu halten und nahm all seinen Mut zusammen. Lieber tot geprügelt werden als elendig in der Gerberei verrecken. „Ich gehe nicht mehr in die Gerberei.“ Seine Antwort war von allen vernommen worden und auch die Edelleute am Tresen sahen interessiert in ihre Richtung. “Aber warum denn nicht, mein Junge? Wo der Gerber doch so ein guter Mensch ist. Er liebt dich wie einen Sohn und bringt dir ein gutes Handwerk bei.“ Lucien dachte an den verwöhnten Erstgeborenen des Meisters, der tagsüber in seinen Privatgemächern von gebildeten Lehrern unterrichtet wurde und nur in die Gerberei kam wenn ihm langweilig war um die anderen Jungen zu schikanieren in dem er sie in die mit stinkendem Sud gefüllten Bottiche stieß. Seine Stimme blieb fest. „Ich werde dort nicht mehr hingehen, Onkel.“ Der Wirt grinste seinen Gästen zu. „Was für ein sturer kleiner Junge, nicht wahr? Lucien, geh doch nach hinten und ruh dich ein wenig aus. Wir sprechen uns später.“

Der braunhaarige Junge wusste, dass ihm Schläge drohen würden doch nie hatte er mit der Gewalt gerechnet, die er in dieser Nacht erfuhr. Seine Tante, die ihm ebenfalls noch ein paar Schläge mit dem Stock versetzte, teilte ihm nach einer zweitägigen Bewusstlosigkeit mit, dass neben den gigantischen blauen Flecken und Schwellungen drei seiner Rippen gebrochen waren und der linke Arm ausgekugelt war. Es dauerte ganze zwei Wochen in denen er auf der Bettstatt lag und im dunklen Zimmer auf sein Ende wartete, das nicht kam.

Julianne hatte man in einer kleine Abstellkammer untergebracht doch eines Tages als beide Wirtsleute emsig in der Gaststube zu schaffen waren gelang es ihr kurz ungesehen in sein dunkles Zimmer zu schlüpfen. Sie betrachtete ihn mit traurigen braunen Augen. „Du Lucien? Ich glaube, du solltest weggehen. Du hast doch irgendwo eine Mama, oder?“ Sie zog ein dünnes brüchiges Pergament hervor. „Das hab ich bei meiner Mutter unterm Bett beim Sauber machen gefunden. Ich hab’s mir von einem Gast vorlesen lassen. Da steht Marie Sabatier, die ihm Palais d’automne in Paris wohnt.“ Sie blickte ihn fragend an. Lucien reagierte nicht sondern starrte weiterhin wie apathisch an die Decke. Sie biss die Lippen aufeinander und legte das Pergament auf seine Decke. Dann ging sie so leise wie sie gekommen war wieder hinaus. Sobald sei hinausgeschlüpft war drehte sich der kleine Junge mit Schmerzen auf die Seite und griff nach der Adresse. Er strich behutsam mit dem Finger darüber als wäre es ein Schatz. Er konnte die Buchstaben nicht lesen aber in Gedanken wiederholte er immer wieder die gleichen Worte damit er sie nicht vergaß: Marie Sabatier, Palais d’automne Paris.

Zwei Wochen später wurde er wieder zum Gerber geschickt und er war gezwungen doppelte Schichten zu arbeiten um den finanziellen Verlust, den sein Fehlen bedeutet hatte wieder wett zu machen. Um ein weiteres Weglaufen zu verhindern hatte man ihn mit einer Eisenkette an den Gerberbottichen festgebunden, die er auch mit aller ihm zur Verfügung stehenden Gewalt und Kraft nicht aufbekam.

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Was die Gesellen jedoch nicht berücksichtigt hatten war die zerstörende ätzende Wirkung der Gerbungssubstanzen. Es dauerte einen weiteren Monat bis das billige Metall so verrostet und zerfressen war, dass er sich befreien konnte. Sobald die Gesellen ihre kurze Mittagspause antraten rannte er aus der Gerberei. Er rannte und rannte, ignorierte die Schmerzen und schlich in einem ungesehen Moment durch die Stadttore Nimes. Er lief weiter. Den ganzen Tag und die Nacht bis er in den Morgenstunden in einem Waldstück zusammenbrach und bewegungsunfähig liegen blieb. Hier würde ihn niemand finden. Während er einschlief murmelte er die alles entscheidenden Worte vor sich hin um sie nicht zu vergessen und drückte das dünne Pergament in seiner Tasche: „Marie Sabatier, Palais d’automne Paris“

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Zuletzt geändert von Lucien am Mi 13. Mai 2015, 17:14, insgesamt 2-mal geändert.

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BeitragVerfasst: Mi 13. Mai 2015, 16:39 
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Kapitel III
Paris, September 1066

Lucien hatte wohl einen Monat gebraucht bis er vor sich die mächtige, von Türmen flankierte Stadtmauer der größten Stadt in ganz Europa, erblickte. 200000 Einwohner hatte er von ei-nem fahrenden Gaukler, den er ein Stück weit begleitet hatte, gehört, aber diese Zahl klang so groß. Er konnte sie sich nicht einmal vorstellen. Mittlerweile war es September und obwohl die Tage nach wie vor angenehm warm waren bohrte sich nachts die eisige Kälte in seine Knochen wenn er sich in der Nähe einer Herberge oder neben der Straße zum Schlafen zu-sammen kauerte. Er hatte gehungert, gebettelt, gestohlen und sich mehrmals sogar um einen Laib Brot geschlagen, den ihm ein meist älterer Bursche entreißen wollte. Er hatte es ge-schafft. Nun würde bald alles gut werden. Noch immer hatte er das Pergament mit der Adres-se in seiner Hosentasche bei sich. Der Junge hatte keine Schwierigkeiten in die Stadt eingelas-sen zu werden, da er hinter einem Bauernkarren herschlich und so tat als gehöre er zu der da-rauf sitzenden Familie. Sobald er in der Stadt war fragte er jeden Bettler, Handwerker und jede Prostituierte, die ein wenig Mitleid mit ihm hatte, nach dem Weg zu dem Anwesen D’automne. Er beachtete weder die hohen mehrstöckigen Häuser, noch die gigantischen Kir-chen, weder die breiten gepflasterten Straßen noch die edel gekleideten Passanten sondern kämpfte sich über Informationsquelle zu Informationsquelle weiter. Schließlich hatte er es geschafft.

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Er erkannte in der Nähe des Flusses, den die Bewohner Seine nannten, ein stolzes, weiß ge-strichenes Anwesen. Der Palais D’automne. Lucien umfasste mit den Händen die eisernen Gitterstäbe, die das Gelände abgrenzten, bewunderte den gepflegten Park aus nie zuvor gese-henen Pflanzen, die ordentlich geharkten Wege, die Wasserbecken und die sauber gekleidete Dienerschaft. Hier herrschte Reichtum und wenn seine Mutter in diesem Haus arbeite, dann gäbe es bestimmt auch für ihn eine Möglichkeit etwas zu arbeiten, vielleicht einen Platz wo er hingehören konnte?

Er ging auf den Wachmann zu, der am Tor positioniert war und mit seiner stoischen geraden Haltung und dem harten Gesichtsausdruck eher an eine steinerne Statue als an einen Men-schen erinnerte. Seine Stimme war ein wenig heiser als sich Lucien an den großen Mann in der silbernen Rüstung wandte. „Verzeihen Sie, Monsieur. Ich suche meine Mutter, Marie Sabatier. Sie wohnt hier. Könnten Sie ihr vielleicht ausrichten lassen, dass ich hier bin?“ Der Mann rea-gierte nicht, zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Verzeihung, Monsieur“ versuchte es der braunhaarige Junge erneut, doch der Wachmann fuhr zu ihm herum und zischte ihn mit dunk-ler drohender Stimme an. „Hier wohnt keine Marie Sabatier. Verschwinde.“ Der kleine Junge tat einen Satz nach hinten aus Angst geschlagen zu werden. Seine Reflexe diesbezüglich wa-ren nach all den Jahren vorzüglich, doch der Hieb blieb aus.

Über die sauberen Wege des Parks näherte sich ein hoch gewachsener stämmiger Priester in schwarzer Robe. Der Wachmann öffnete das Tor, verbeugte sich und ließ den Geistlichen hin-aus. „Pater Ignatius.“ Der Priester schlug das Kreuzzeichen über dem Kopf des Mannes. “Mö-ge der Herr mit euch sein, mein Sohn.” Lucien musterte die beiden Männer und wandte sich an beide, richtete seine grauen Augen jedoch hoffnungsvoll auf den Priester. „Verzeiht Messi-eurs, wohnt hier meine Mutter Marie? Ich bin von Nimes hierher gewandert um sie zu suchen. Bitte, wenn Ihr etwas wisst, dann sagt es mir.“ Der Priester und der Wachmann sahen sich für einen Augenblick an, dann bückte sich der Geistliche zu ihm hinunter und musterte den Jun-gen. „Deine Mutter hat hier gearbeitet, mein Sohn. Aber sie arbeitet nicht mehr hier. Lass die guten Leute also ihre Arbeit tun, ja?“ Damit erhob er sich und schritt davon.

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Lucien rannte ihm hinterher und hielt ihn am Saum seiner Kutte zurück. „Bitte, Pater Ignatius. Sagt mir, wo sie ist und wie es ihr geht.“ Der Geistliche sah ihn traurig an, schlug das Kreuz-zeichen über ihm und schritt weiter. Lucien lief an seiner Seite, redete auf ihn ein aber der Mann beachtete ihn nicht weiter. Es dauerte wohl fünf Minuten bis sie an eine gigantische romanische Kirche gelangten. Lucien konnte die Worte, die über dem Eingangsportal einge-lassen waren nicht lesen aber die Passanten, die in der Nähe standen und die mächtigen neuen Türme bewunderten flüsterten immer wieder vom Kloster St Denis. Hier wurden die Könige von Frankreich bestattet, die mächtigsten von Gott selbst geweihten Monarchen… Der Pries-ter schritt zügig durch das Eingangsportal. Lucien wollte ihm folgen aber ein direkt am Tor positionierter Laienbruder schritt ihm in den Weg und hielt ihn zurück. „Hey. Junge. Hier ist kein Zutritt für Bettler oder Jungen deines Standes. Du bleibst draußen.“ Lucien war der Ver-zweiflung nah. Er hatte den weiten Weg nach Paris zurückgelegt, hatte den Palais D’automne gefunden, jemanden, der etwas über den Verbleib seiner Mutter wusste und dennoch nicht bereit war ihm Auskunft zu erteilen. Erschöpft ließ er sich an einer der Säulen am Eingangsbe-reich niedersinken und starrte vor sich in den Staub der über die Marmorplatten wehte. Er biss die Zähne aufeinander. Irgendwann würde Pater Ignatius das Kloster schon wieder verlassen müssen.

Lucien harrte Tag und Nacht vor dem Gotteshaus aus. Viele Passanten hatten Mitleid mit dem Bettlerjungen und warfen ihm eine Münze zu, so dass er sich dann und wann etwas zu essen kaufen konnte. Pater Ignatius verließ täglich das Kloster, versuchte den aufdringlichen Jungen mit beschwichtigenden Worten oder indem er ihn schlicht ignorierte davon abzubringen ihm zu folgen, aber bisher war es ihm dies nicht gelglückt.

Mittlerweile war es Ende September. Lucien rutschte näher in den Schatten des Eingangsbe-reichs. Draußen wehte ein eisiger Wind und die Kälte blies ihm durch seine löchrige Kleidung bis tief in die Knochen. Er erkannte einen blonden bärtigen Mann, der sich mit zwei kleinen Mädchen und einem Jungen der Kirche näherte. An der guten Kleidung, die jedoch nicht zu prunkvoll gehalten war erkannte der braunhaarige Junge, dass es sich wohl um einen Kauf-mann handeln musste und sein Dialekt hatte den runden Klang des Flandrischen.

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Die Familie schritt näher. „Schaut euch die Stadt in ihrer ganzen Pracht an, Kinder! Und diese Kirche. Die erste ihrer Art. Gotik“ Er sah zu seinem kleinen Sohn. „Christian? Eines Tages wirst du hier in Paris leben und studieren. Wie findest du das?“ Statt des Jungen, der wohl um die fünf Jahre zählte antwortete seine ältere Schwester. „Ich will auch studieren, Papa.“ Der Händler lachte herzlich und strich seiner Tochter über die blonden Zöpfe. „Mädchen dürfen leider nicht studieren. Aber dafür bekommst du einen Ritter. Einverstanden?“ Das Mädchen verzog schmollend den Mund. „Nein. Ich will keinen doofen Ritter.“ Sie griff ihre kleinere Schwester an der Hand und lief beleidigt durch das Tor ins Innere der Kirche. Der Wärter ließ sie ohne Fragen passieren. Der Kaufmann lachte, sah den Kindern kurz hinterher, bemerkte dann die dünne Gestalt, die sich an eine Säule kauerte und blieb stehen. „Na, mein Junge? Alles in Ordnung bei dir?“ Lucien schob sich das mittlerweile viel zu lange ungewaschene Haar aus der Stirn. „Ja, Herr. Alles ist in Ordnung. Ich warte hier auf meine Eltern. Sie kom-men mich gleich holen.“ Der blonde Mann nickte und versuchte das Mitleid aus seinem Ge-sicht zu vertreiben. Er holte eine Münze hervor und drückte sie ihm in die Hand. „Falls es noch etwas länger dauern sollte, bis sie wieder hier sind.“ Er nahm die Finger seines Sohnes in die Faust und folgte den Mädchen. Lucien sah der Familie lange hinterher und dachte an seine Mutter.

Nach einiger Zeit öffnete sich die Eingangstür und Pater Ignatius trat hinaus. Bei Luciens An-blick seufzte er laut auf und schien entschlossen mit eiligen Schritten an dem Jungen vorbei zu schreiten. Doch Lucien war bereits an seiner Seite und rief ihm die Fragen zu, die dieser nicht beantworten wollte. „Bitte, Pater. Sagt mir wo meine Mutter ist.“ Aus dem Augenwinkel be-merkte er den Kaufmann, der mit seinen Kindern den Kirchenbesuch beendet hatte, doch das ließ den Jungen nicht inne halten. „Bitte, Pater Ignatius. Ihr wisst, wo meine Mutter ist und wie es ihr geht. Bitte sagt mir Bescheid.“ Der Priester seufzte und schritt an ihm vorbei, doch wenige Sekunden später war der Kaufmann an seiner Seite und hielt den Geistlichen am Arm zurück. Er wandte sich kurz an seine Kinder. „Geht doch kurz schon mal vor und schaut mal, welcher der gruseligste Wasserspeier ist. Ihr beide passt auf die kleine Maria auf, ja? Ich bin sofort wieder bei euch.“ Dann besah er sich den schmutzigen Jungen und den Geistlichen noch einmal näher. „Verzeiht mein Herr, dass ich mich hier in euer Gespräch mit diesem gar netten Jungen einmische. Ich wollte gerade eine Spende tätigen. Für das Kloster St. Denis. Für den Schutzpatron meiner Heimatstadt, den heiligen Andreas und natürlich…“ er strich Lucien kurz über den Schopf. „… den heiligen Nikolaus, den Schutzpatron der Kinder. Auf das alle Kinder glücklich mit ihren Eltern vereint sein können, nicht wahr?“ Er drückte dem Priester einen Beutel mit klimpernden Münzen in die Hand und fixierte ihn noch einmal feste. Dann folgte er seiner Familie.

Pater Ignatius stand lange vor Lucien, sah den Jungen an wich jedoch fast schuldbewusst sei-nem Blick aus. „Du möchtest also wirklich wissen, wo deine Mutter ist?“ Ein langes trauriges Ausatmen folgte. „Dann schließ dich mir an.“ Der Priester ging voran und schwieg. Auch Lu-cien biss fest die Lippen aufeinander und versuchte mit den langen Beinen des Mannes Schritt zu halten. Dieser ging durch die edlen Viertel rund um St Denis, überquerte die stinkenden Wasser der Seine und lief weiter durch zunächst kopfsteingepflasterte, dann lehmige, dann matschige und zu guter Letzt stinkende Straßen voller Unrat und Abfall.

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Erst als er beinahe in eine tote, bereits verwesende Ratte getreten wäre, sah der kleine Junge auf. Er blickte sich um. Dies war das Elendsviertel der Stadt. Das übelriechende Abwasser von den Betrieben, die nicht in der Stadt geduldet wurden floss an den Häusern vorbei und ließ die Grundmauern langsam vor sich hinschimmeln. Er hörte die lauten Todesschreie eines panischen Schweins, die ihn zusammen zucken ließen. Anscheinend gingen sie an einer Schlachterei vorbei. Einige Kinder liefen auf den Priester zu um in ihren zerlumpten löchrigen Kleidern einige Münzen von dem Geistlichen zu erbetteln, die er ihnen widerwillig hinwarf.

Schließlich durchschritt er eine eiserne Pforte, die in eine hohe Steinmauer eingelassen war. Lucien blieb wie erstarrt stehen, wagte nicht einen Schritt über die Schwelle zu treten. Er schüttelte den Kopf, wollte am liebsten weglaufen, aber Pater Ignatius wanderte unaufhaltsam weiter ohne Rücksicht auf den zurückbleibenden Jungen zu nehmen. Lucien ballte seine Hän-de zu Fäusten, schloss für einen Moment die Augen und überquerte schließlich die Grenze zum Friedhof des Elendsviertels. Er schloss auf den Priester auf, der zu guter Letzt vor einem kleinen Grab ohne Holzkreuz oder Grabstein stehenblieb. Unkraut wucherte auf dem kargen Boden. Lucien hatte seit er sich erinnern konnte nicht geweint. Er hatte schon früh erfahren, dass es nichts außer Schläge brachte wenn man seine Gefühle offen zeigte, doch als er nun neben der großen Gestalt in der Kutte stand spürte er ein Brennen in den Augen, das er nicht unterdrücken konnte. Er biss die auf seine Zunge und schmeckte Blut.

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Der Priester schielte mit gestrafften Schultern in seine Richtung, wollte ihm tröstend die Hand auf den Arm legen, zögerte und unterließ es dann doch. „Ich hätte dich gerne davor bewahrt, junger Sabatier. Es ist für jeden sterblichen Menschen eine der schrecklichsten Bürden die Mutter zu verlieren. Es gibt nichts, was das Herz so zerreißt wie dieser Schmerz.“

Der Junge presste seine Worte mit Mühe zwischen den Zähnen hervor: „Ich wünschte ich wärre nicht sterblich…“ Der Priester schüttelte sacht den Kopf, trat nah an ihn heran und berührte ihn an der Schulter. Der Junge erstarrte zu einer steinernen Statue. „Versündig‘ dich nicht, mein Junge! Deine Mutter hat dich sehr geliebt. Bis zu ihrem Tod hat sie jeden Centime, den sie verdient hat zu deinen Zieheltern geschickt damit es dir gut gehen würde. Ich war der Priester, der ihr die Beichte abnahm und die letzte Ölung vollzog.“ Er schwieg und ließ die Minuten verstreichen.

„Deine Mutter war die Mätresse des Grafen des Palast d‘ Automne, ein alter, fast greiser Mann. Die deutlich jüngere Gräfin war darüber selbstverständlich nicht erfreut, duldete je-doch demütig wie es einem Weib zusteht die Befehle ihres Gatten. Als der Fürst vor zwei Wintern aufgrund seines schwachen Herzens verstarb wurde deine Mutter, als man sie angeb-lich auf frischer Tat beim Diebstahl des erlesenen Schmucks der Gräfin ertappt hatte, mit Schimpf und Schande aus dem Haus gejagt. Ihr Ruf war ruiniert und sie bekam nirgendwo mehr eine Anstellung. Zu guter Letzt nahm sie jede…“ der Priester betonte das Wort und at-mete tief ein. „… Arbeit an, die sie bekommen konnte. Das Leben war hart für sie. Junge, vielleicht kannst du es als Erlösung für sie sehen?“

Lucien schlug Ignatius Hand, die noch immer auf seiner Schulter geruht hatte weg und fun-kelte ihn böse an. Seine Stimme war laut und er schrie fast. „Wie könnt ihr sowas behaupten? Was für ein Gott ist das? Der so etwas zulässt? Sie war immer ein guter Mensch, sie…“ Er drehte ihm den Rücken zu damit er nicht die Tränen sehen konnte, die ihm übers Gesicht lie-fen. Zornig über seine eigene Schwäche wischte er sie mit dem Handrücken weg und hinter-ließ dabei braune Streifen auf seinen dreckverkrusteten Wangen.

„Die Wege des Herrn sind unergründlich…“ Oh, wie der Junge, diese Worte hasste, die die Pfaffen immer dann von sich gaben, wenn sie nicht mehr weiter wussten. Am liebsten hätte er sich zu dem Priester umgedreht und ihn mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft geschlagen auch wenn er wusste, das war nicht viel, aber stattdessen ballte er nur die Fäuste bis seine Fingerknöchel weiß wurden.Pater Ignatius wartete eine Weile, fasste den Jungen erneut an der Schulter und drehte ihn dann zu sich. Seine Stimme klang freundlich. „Junger Sabatier? Was ist denn mit deinen Zieheltern? Kannst du nicht zurück zu ihnen?“

„Tot!“ Lucien biss die Zähne aufeinander denn eines war ihm klar: Lieber würde er sterben als noch einmal zu seiner Tante und ihrem Mann zurück zu kehren. So falsch war die Antwort also gar nicht. „Hast du sonst jemanden zu dem du könntest?“

Luciens Erwiderung hatte einen fast patzigen Unterton. „Nein! Ich hab niemanden und ich brauch auch niemanden. Ich komme allein klar!“ Er wandte sich ab und schritt davon, ließ den großen Mann einfach stehen, doch dieser holte ihn mit wenigen Schritten ein und hielt ihn mit einer groben Bewegung zurück.

„Junger Sabatier. So wie ich das sehe, hast du derzeit niemanden und du hast nichts zu verlie-ren, oder? Also komm mit mir.“ Lucien wich nach hinten aus, witterte eine Falle… Als der Mann aber ohne ihn weiter zu bedrängen davon schritt folgte ihm Lucien nach wohl einer halben Minute in einigem Abstand. Er bemerkte, dass der Priester den Weg zum Kloster St. Denis eingeschlagen hatte und schließlich nach langer Wanderung wieder an der großen Kir-che ankam. Der Geistliche durchschritt die Pforte, deren Zugang Lucien so viele Wochen verwehrt gewesen war. Vorsichtig steckte der Junge den Kopf durch die Tür, rechnete jeden Moment damit, dass der Pförtner ihn mit einem groben Schlag wieder nach draußen befördern würde, doch der Adept stand nur schweigend am Eingang und beachtete ihn mit gespielter Gleichgültigkeit nicht weiter.

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Er versuchte mit den Augen dem Priester zu folgen, doch sein Blick streifte durch die Ka-thedrale. Nie hatte er etwas Ähnliches gesehen. Die Bögen wuchsen wie gigantische Bäume nach oben, spannten das Dach zwischen sich auf wie einen göttlichen Himmel. Er sah, dass sich die Bürger von Paris gerade zu einem Gottesdienst einfanden und vernahm lautes Getu-schel und trockenes Husten. Er beschleunigte seine Schritte um zu dem Geistlichen aufzuschließen.

Dieser verließ die prächtige Kirche durch einen Seitenausgang und befand sich nun in einem Vorhof zum eigentlichen Kloster. Er durchschritt ein weiteres Portal und ging nun mit Lucien durch die Wohn- und Wirtschaftsgebäude der Bruderschaft. Die Gebäude waren einfach ge-halten doch sauber gestrichen und in gutem Zustand. Lucien erkannte mehrere plätschernde Brunnen, und einen großen Klostergarten mit Apfel – und Birnbäumen, die voller reifer Früchte hingen. Er konnte das Knurren seines Magens nicht unterdrücken. Pater Ignatius schloss schließlich mit einem eisernen Schlüssel eine Tür auf und ließ Lucien in ein spartanisch eingerichtetes Büro treten, dessen einziger Wandschmuck aus einem edlen dunklen Holzkreuz bestand. Mit den Worten „Setz dich, mein Junge!“ nahm er selbst hinter einem Schreibtisch Platz. Lucien setzte sich auf den hohen Stuhl, der ihm riesig vorkam und sah den Priester misstrauisch an. Dieser legte die Finger ineinander und seufzte.

„Die Wege des Herrn sind unergründlich, Junge. Und aus welchem Grund auch immer: der Herr hat dich zu mir geführt. Deine Mutter sowie all deine Verwandten sind tot und deine Geburt erfolgte nicht nach dem Sakrament der Ehe wie es der Herr vorgesehen hat. Damit hat deine Mutter schwere Schuld auf sich und auch auf dich geladen. Aber sie hat gebeichtet und ich habe ihr die Absolution erteilt bevor ihre Seele in den Himmel kehren konnte. Und es war ihr letzter Wille, dass es dir gut gehen sollte und auch wenn ich vielleicht nicht viel für dich tun kann: den Willen einer Sterbenden achte ich!“ Er sah den Jungen fragend an, schwieg wartete auf eine Erwiderung von Lucien. Da diese nicht folgte fuhr er schließlich fort.

„Du kannst hier im Kloster leben und zu einem Diener Gottes ausgebildet werden bis du die Priesterweihen empfangen wirst oder dich entschließt dein Leben weiterhin in den Mauern dieses Klosters als Mönch zu verbringen. Das Leben hier ist hart und beschwerlich denn es erfordert viel Kraft sein Leben Gott zu weihen aber wenn ich eines von dir erfahren habe, Sabatier, dann dass du ein Junge bist, der kämpft und lieber stirbt als aufgibt. Gute Voraussetzungen um hier zwischen den anderen Novizen zurecht zu kommen. Einige der Knaben entstammen altem Adel und müssen ebenso wie du erst noch die Tugenden der Demut, des Respekts und der Brüderlichkeit lernen.“

Er sah wieder in die Richtung seines Gegenübers und ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen als er sah wie Lucien vor Erstaunen der Mund offen stand. Die Stimme des Jungen war kaum zu vernehmen: „Ihr meint ich kann hier zu einem Gelehrten ausgebildet werden? Zu einem Priester? Zu jemand der Lesen und auch Schreiben kann?“

Der Priester nickte. „Sofern du deine Aufgaben erfüllst. Ich biete dir diese Möglichkeit und ich denke, du kannst sie gut nutzen. Bedenke jedoch Folgendes: Unser Leben ist durch ge-meinschaftliches und individuelles Gebet, Einkehr, Stille, Kontemplation und Abgeschieden-heit von der Welt, körperliche Arbeit, geistiges und geistliches Studium und Gastfreundschaft gekennzeichnet.“ Lucien ließ sich die Worte durch den Kopf gehen auch wenn er nicht bei allen Begriffen verstand, was gemeint war. Der Priester sah ihn an. „Geh ein wenig draußen spazieren. Das hilft beim Nachdenken. Überlege dir deine Antwort gut. Ich erwarte dich und deine Entscheidung zur sechsten Abendstunde wieder in diesem Raum.“

Lucien schlenderte langsam durch das Klostergelände und seine Gedanken überschlugen sich. Niemals in seinem Leben hätte er mit einer solchen Möglichkeit gerechnet, niemals gedacht, dass das Leben vielleicht etwas anderes, etwas Besseres für ihn bereithalten konnte. Er ging an einem der prächtigen Apfelbäume vorbei und pflückte sich in einem ungesehenen Augen-blick eine der Früchte, die er so schnell mit Stil verschlang, dass er kaum schmeckte wie gut das saftige Aroma war. Er sah zwei miteinander lachende Novizen, nur wenige Jahre älter als er mit Büchern unterm Arm zum Lesesaal schreiten. Vor sich erblickte er die große Kirche. Am Eingang stand ein Priester tief in ein Gespräch mit einer brünetten Frau vertieft und an der Art wie die Frau ihn ansah und mit Gesten neckte, konnte man erkennen, welche anrüchi-gen Gedanken ihr durch den Kopf gehen mochten. Hatte nicht fast jeder Priester statt einer Frau eine Haushälterin, die die gemeinsamen Kinder großzog? Der braunhaarige Junge öffnete schließlich mit zögernder Hand die Kirchenpforte und trat erneut in das beeindruckende Got-teshaus. Die Messe war mittlerweile zu Ende und das Kirchenschiff vollständig leer. Stille hatte sich in dem gigantischen Raum ausgebreitet und nur das leise Knistern von schwachen Kerzen war zu vernehmen

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Durch die wunderschönen Glasfenster fiel das Licht der letzten Sonnenstrahlen und tauchte den weiten hohen Innenraum der Kirche in fast übersinnliches buntes Licht. Lucien blieb ste-hen, hielt seine vernarbten Finger in die vielfarbigen Strahlen und fast sah es so aus als wäre seine Hand heil und unversehrt. Er faltete die Hände und zum ersten Mal seit unvorstellbarer Zeit betete er und richtete seien Gedanken an den Gott, der ihm noch nie zu antworten bereit gewesen war. Seine Entscheidung war gefallen.

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Kapitel IV
Paris; Kloster St. Denis, September 1067

Lucien ging mit den anderen Novizen zum Unterricht ins Klosterkapitel. Der Junge war mittlerweile ein ganzes Jahr in der Abtei und es ging ihm gut. Bei allen körperlichen Tätigkeiten war er schnell und fleißig, egal ob der Garten umgegraben werden musste, eine neue Mauer angelegt wurde oder der Abt beschlossen hatte, dass das Refektorium, in dem die Mönche ihre Mahlzeiten einnahmen, einer gründlichen Reinigung unterzogen werden sollte. Er arbeitete hart und er tat es gern. Die Mahlzeiten waren gut und ausreichend und er war sich sicher, dass er in dem Jahr ein ordentliches Stück gewachsen sein musste. Obwohl er sich ein wenig schwer tat wenn es darum ging Stunde um Stunde schweigsam in der Bibliothek über das Evangelium zu philosophieren und innere Einkehr zu halten, wurde er doch von fast allen Mönchen gelobt und Bruder Ignatius wurde ein ums andere Mal für die Auswahl seines besonderen Schülers in hohem Maße respektiert. Nachdem man ihm und den Novizen seines Alters in diesem Jahr die Grundkenntnisse der lateinischen Sprache beigebracht hatte würden die Jungen im nächsten Jahr Lesen und Schreiben lernen und Lucien war mehr als erpicht auf diese Fähigkeiten, denn sie zeichneten neben der Kenntnis der Sprache der alten Römer einen gelehrten Mann aus.

Eine Tätigkeit im Kloster bereitete ihm in besonderem Maße Freude: er hatte eines Tages eine unwichtige Botschaft zu Bruder Thomas in die Werkstatt bringen sollen und war fasziniert in dem sonnendurchfluteten Schuppen stehen geblieben. Die hellen Strahlen fielen durch die von Holzstaub durchzogene Luft und zeichneten gerade, wie mit einem Lineal gezogene Linien.

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Lucien erkannte Kreuze mit den Figuren des Heilands, aber auch Tiere wie Stiere, Schafe und Adler, die für die Evangelisten standen, die Jungfrau Maria, wunderschöne Engel, die mit ihren scharfen Schwertern die Teufel der Unterwelt zurück in die Hölle verbannten. Manche Figuren wurden gerade erst aus den großen Holzblöcken frei gelegt und der Junge bestaunte, die Kunstfertigkeit des dicklichen Mönches, der mit den Werkzeugen auf das Holz einarbeitete. Mit offenem Mund stand er da, bis ihn der Pfaffe grummelnd anmurmelte: „Willst du den ganzen Tag da so Maulaffen Pfeil halten? Wenn du grad nix zu tun hast, nimm dir die feine Pfeile da drüben und polier mir den Engel hier.“
Bruder Thomas drückte ihm ein wunderschönes Stück Kirschholz in die Hände und von diesem Zeitpunkt an verbrachte er jede freie Minute in der Werkstatt.

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Lucien teilte sich sein Zimmer mit einem blonden Jungen seines Alters, Adrian. Der eher zierliche zweitgeborene Sohn eines unwichtigen Bezirksrichters war ein fleißiger, frommer Schüler, eher schweigsamerer Natur und unglaublich froh darüber der strengen Herrschaft seines Vaters entkommen zu sein. Nur seine wenige Jahre ältere Schwester fehlte ihm, wie er jede Nacht betonte, wenn er sie in seine Gebete einschloss. Lucien mochte den ruhige zuverlässigen Kameraden, der ihn in der Mitternachtsmesse genau in den Momenten anstieß und aufweckte in denen der Prior gerade in ihre Richtung schaute und der ihn immer dann die Antworten in Latein zuflüsterte, wenn die Lehrer besonders schwere Fragen stellten.

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Im Herbst seines zweiten Jahres wurde den beiden Knaben ein zusätzlicher Zimmergenosse zugeteilt: Bei Dominik handelte es sich um den letztgeborenen Sohn eines einflussreichen Pariser Adeligen. Trotz seines auffallenden roten Haares war er ausgesprochen hübsch anzusehen und wusste um sein Charisma und seine Fähigkeiten die Erwachsenen jederzeit in die von ihm gewünschte Richtung lenken zu können. Ein Blick der unschuldig wirkenden blauen Augen und alles war wieder gut. Obwohl der Fürstensohn schnell der Liebling der Lehrer wurde, war er bei den Novizen aufgrund seiner überheblichen arroganten Art alles andere als beliebt und wurde wann immer möglich gemieden.

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Lucien bewunderte zwar die Schlagfertigkeit und den zynischen Spott des Jungen aber da auch Adrian und Lucien diesen zu jeder denkbaren Gelegenheit zu spüren bekamen da Dominik alles andere als erfreut darüber war mit zwei Knaben des einfachen Pöbels das Zimmer teilen zu müssen, war Luciens Geduld irgendwann erschöpft. Die Jungen lagen nachts in ihren Betten und wie jeden Abend sprach Adrian seine Gebete in denen er seine Schwester miteinschloss. Dominiks beißende Bemerkung ließ nicht lange auf sich warten: „Verdammt! Halt endlich die Klappe. Keinen interessiert, was du da zu erzählen hast. Gott will einfach nur seine Ruhe von deinem Gejammer und deine Schwester, wenn sie auch nur halbwegs bei Verstand ist, hat auch besseres zu tun als ihre Gedanken an so ein winselndes Etwas wie dich zu verschwenden.“ Lucien fuhr hoch, war innerhalb weniger Schritte am Bett des Fürstensohnes und riss ihn am Kragen zu sich hoch in die Dunkelheit. Sei Gesicht war nur wenige Zentimeter von dem seines Gegenübers entfernt und seine Züge waren vor Wut verzehrt. „Jetzt hörst du mir mal gut zu, du arrogantes Schwein! Was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist? Du glaubst, die Tatsache, dass deine Eltern da draußen die Welt regieren, macht dich hier drin zu was Besserem? Falsch gedacht! Du bist der, was? Neuntgeborene? Deine Eltern haben da draußen keine Verwendung für dich und sind froh, wenn sie dich in dieses Kloster abschieben können. Da draußen bedeutest du ihnen nichts, bist nur eine weitere Last, ein weiteres Kind, das sie irgendwie unterkriegen müssen. Vielleicht können sie dich ja, wenn‘s dir hier nicht gefällt, zum Ritter ausbilden lassen, auf dass du dein Leben für die Heilige Kirche im fernen Palästina lässt. Na, würd dir das gefallen? Hier drin sitzen wir alle im gleichen Boot! Klar? Wenn du nicht so ein selbstgerechtes Arschloch wärst könnte man ja glatt mit dir auskommen… Also: halt die Klappe, oder verschwinde!“

Dominik war schlagartig still und auch die weiteren Wochen verbrachte er schweigend, ließ die Jungen in Frieden. Lucien begann sich schon fast zu fragen, ob der Knabe je wieder sprechen würde. Eigentlich war es ihm egal.

Eines Samstag Nachmittags war es an den Novizen sich wie jede Woche die Beichte abnehmen zu lassen. Pater Thomas übernahm an jenem Tag diese Aufgabe. Die Jungen sahen der Beichte also gelassen gegenüber. Bruder Thomas hörte in den seltensten Fällen zu sondern begleitete die gemurmelten Worte der Jungen stets mit gleichmäßigem Schnarchen. Am Ende wenn das Flüstern verstummte erwachte er leise grummelnd, brummte jedem für die Absolution zehn Ave Maria auf und schlief weiter. Lucien war als letzter an der Reihe und wartete mit der wenigen Geduld, die er noch aufbringen konnte. Nach der Beichte standen den Jungen zwei Stunden zur freien Verfügung bevor der nächste Gottesdienst beginnen würde und alle anderen gingen bereits ihrer Wege. Adrian stolperte an ihm vorbei. „Lucien? Bruder Thomas ist heute gut gelaunt. Für jeden nur fünf Ave Maria. Ich wart‘ vor dem Refektorium auf dich. In Ordnung?“ Lucien nickte und schritt in die große, stille Kathedrale. Wie vor einem Jahr fiel das Sonnenlicht durch die hohen Fenster und malte bunte Bilder an die Wände und auf die mächtigen Steinplatten. Er trat an den dunklen Beichtstuhl, schob den Vorhang zur Seite und nahm Platz. Ohne lange Zeit verstreichen zu lassen begann er mit: „Vater, ich habe gesündigt.“ Er verharrte einen Moment und hörte das gleichmäßige Schnarchen des Mönches. Er unterdrückte ein erleichtertes Seufzen und fuhr in leisem Tonfall fort um den Beichtvater nicht zu wecken.
„Ich habe meine Mitbrüder um ihre Portionen beim Essen beneidet und hätte mich gerne bei ihrem Teller bedient, ich bin wohl zu jeder Mitternachtsmesse eingenickt, auch wenn es keiner bemerkt hat, ich habe mich beim Apfelpflücken zu Beginn der Woche mit vielen reifen Früchten eingedeckt und vergessen, die zehn Ave Maria von der letzten Beichte zu beten.“ Er wartete einen Moment um nach wie vor die ruhigen Geräusche des Mönchs zu vernehmen bevor er weiter machte. „Des Weiteren begehre ich die Tochter des Müllers, ein wirklich hübsches Mädchen, das bei der Messe immer in meine Richtung sieht. Mit der wär‘ ich gern mal ein paar Minuten allein…“ Lucien grinste.

„Tatsächlich? Ist dem so?“ Die fremde, dunkel verstellte Stimme ließ ihn schlagartig zusammen fahren und das Grinsen verschwand von seinen Zügen. Dann wurde das kleine Fenster, das zwischen den Beichtstühlen angebracht war aufgeschoben, und er erkannte das lachende Gesicht von Dominik. „So? Und was hast du mit den ganzen Äpfeln gemacht? Alle allein gegessen? Ob da wohl zehn Ave Maria reichen?“ Lucien riss die Tür zum anderen Teil des Beichtstuhls auf und zog den rothaarigen Jungen von der Bank hoch. Das Grinsen lag nach wie vor auf dessen Zügen. „Komm schon Lucien, wenn du nicht jedes Mal, wie ein attackierter Wolf jeden anfahren würdest, könnt man glatt gut mit dir auskommen.“ Lucien stand einen Moment unschlüssig da, dann lachte er und schüttelte den Kopf. Er machte auf dem Absatz kehrt, ließ den Fürstensohn stehen und ging Richtung Ausgang, doch Dominik folgte ihm dich auf den Fersen. „Die Tochter des Müllers also? Kann ich gut verstehen… bei dem Hintern und den Augen… wobei ich drauf schwören könnte, dass sie immer in meine Richtung sieht.“ Er hatte die Pforte nach draußen erreicht und schritt hindurch.

Draußen wartete Adrian, der ebenfalls ein fast schuldbewusstes Grinsen auf den Lippen hatte. „Und? Die Müllerstochter, oder?“ Er sah Lucien und Dominik in gleichem Maße an. Der rothaarige Fürstensohn nickte. „Jep. Genau wie bei uns beiden.“ Luciens Blick wanderte von einem zum Anderen: „Ihr beide habt das geplant? Ich dachte, ihr könntet euch nicht ausstehen?!“ Dominik zuckte mit den Schultern. „Dinge ändern sich, oder?“ Dann deutete er zur Küche des Klosters. „Ich hab dem Koch vorhin geholfen Apfelkuchen zu backen und den hab ich zum Kalt werden auf die Fensterbank gestellt. Sollen wir nicht mal schauen ob noch was davon übrig ist, bevor sich die Vögel alles holen?“ Fröhlich schlenderte er in Richtung Küche und wartete darauf, dass seine Zimmergenossen ihm folgten.

Die Monate verstrichen und alles lief in ruhigen, gleichmäßigen Bahnen. Adrian, Dominik und Lucien entwickelten sich zu einem effizienten Trio: Adrian überzeugte mit seinem wachen Verstand und seinem Wissensdurst, Lucien durch seine Fähigkeit immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und mit anzupacken und Dominik mit seinem Charme, Humor und seiner Überredungskunst. Ab und an traf er sich mit Bruder Ignatius, der wohlwollend auf seinen Schüler herabsah, dem nicht mehr viel fehlte bis er die Größe des Mönchs erreicht hätte und der ein ums andere Mal betonte, welcher Segen es gewesen war, dass der Herr ihre Wege gekreuzt hatte. Ja, er war stolz auf Lucien.

Für Lucien hätte es ewig so weiter gehen können, doch zum Weihnachtsfest des Jahren 1067 ereignete sich eine Begebenheit, die das Leben der Jungen für immer verändern sollte. Der alte Abt Ägidius, ein freundlicher, menschenliebender jedoch wenig ambitionierter Gottesmann wurde in ein kleines Kloster auf dem Land versetzt und statt seiner wurde ein fremder Mönch namens Gregor zum neuen Abt ernannt. Gregor galt als gottesfürchtig, streng, dominant und sollte das Kloster in den nächsten Jahren zu weiterem Ruhm verhelfen.

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Kurz nach seiner Ankunft begann er das klösterliche Leben in seinem Sinne umzugestalten und Zucht und Ordnung hielten Einkehr. Lucien war es gewohnt hart zu arbeiten und kannte weit schlimmere Umstände, und so tat er weiterhin seine Arbeit und ließ auch die Strafen, die man ihm mehr weil es so erwartet wurde als dass er sie wirklich verdient hätte auferlegte über sich ergehen.

Erst als zunächst Adrian und dann auch einige der anderen jüngeren Novizen immer stiller wurde merkte Lucien, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Sein Zimmergenosse schwieg fast nur noch und auch seine nächtlichen Gebete, die immer das Einschlafen der Knaben begleitet hatten blieben aus. Sowohl Dominik als auch Lucien redeten auf den blonden Sohn des Richters ein, dass er endlich berichten solle, was los sei, aber der Junge presste die dünnen Lippen aufeinander und schwieg beharrlich.

Der Kreis der schweigenden Novizen vergrößerte sich mit jeder Woche, die verstrich. Lucien bemerkte es nicht nur in den Stunden in denen die Knaben ihre Freizeit genießen sollten, sondern auch in den Unterrichtsstunden und während der Arbeit. Die anderen waren fahrig, unkonzentriert, gleichzeitig wachsam und ängstlich. Irgendwann gehörte auch Dominik zu diesem Kreis und sosehr sich der Junge aus Nimes auch bemühte, er konnte das Schweigen nicht durchbrechen. Eines Nachts, die ersten warmen Frühlingtage begannen langsam den Schnee, der das Kloster in seiner eisigen Umarmung festhielt aufzutauen, hörten sie die leise Stimme von Adrian im Dunklen.

„Wisst ihr, was mit meiner Schwester geschehen ist?“ Er wartete, schien mehr zu sich selbst als zu den Jungen zu sprechen. „Der Bruder unserer Mutter hat sie ein ums andere Mal geschändet. Immer und immer wieder, viele Jahre lang. Eines Tages, als sie merkte, dass sie schwanger war, ergriff sie solche Verzweiflung, dass sie sich an unseren Vater wandte. Doch Vater hat sie nur ins Gesicht geschlagen, sie als Hure beschimpft und ihr gedroht sie in Schimpf und Schande aus dem Haus zu jagen. Ich war gerade neun Jahre alt und sie hat mir in dieser Nacht immer wieder über den Kopf gestrichen und mir gesagt, dass nur Engel frei sind und wegfliegen könnten. Wenige Stunden später ist sie auf die Stadtmauer gestiegen und hat sich hinuntergestürzt. Am nächsten Morgen fand man das, was von ihr übrig war. Ich habe sie nie wieder gesehen.“

Lucien lief bei den Worten des Knaben ein eisiger Schauer über den Rücken und er hörte wie Dominik in seinem Bett schwer schluckte. Er fand für den Rest der Nacht keinen Schlaf mehr.

Am Morgen des übernächsten Tages fand man die Leiche von Adrian im Hof des Klosters. Er war des Nachts auf den Glockenturm von St. Denis gestiegen und in die Tiefe gesprungen. Da ein Tötungsdelikt außer Frage stand war allen Mitgliedern der Klostergemeinschaft bewusst, dass sich der junge Richtersohn des schwersten Verbrechens schuldig gemacht hatte in dem er sich selbst gerichtet hatte. Er war damit verflucht und sein Leib durfte nicht in geweihter Erde ruhen. Deshalb verscharrte man die Leiche in einem Massengrab für Mörder und andere Verbrecher vor den Toren der Stadt.

Obwohl es den Jungen verboten war das Kloster zu verlassen, kletterte Lucien nach der Mitternachtsmesse über die Klostermauern, legte die Kutte ab und ging durch die dunklen einsamen Straßen von Paris. Erst nachdem er wohl eine viertel Stunde gewandert war und die Glocke ein Uhr schlug bemerkte er, dass er verfolgt wurde. Er wartete eine Weile bis der rothaarige Junge zu ihm aufgeschlossen hatte, dann gingen beide Knaben schweigend nebeneinander her bis sie das Grab vor den Toren erreicht hatten. Der Boden war feucht und morastig, es stank nach Verwesung da man die Leichen nicht tief genug begrub und wilde Hunde und andere Tiere nach den Überresten scharrten und sich daran satt fraßen. Lucien schluckte schwer, faltete dann die Hände und wiederholte das Gebet, das Adrian jeden Abend in gleicher Weise aufgesagt hatte. Lucien vergaß auch nicht die Schwester seines Freundes zu erwähnen, auch wenn er das Mädchen nie kennen gelernt hatte. Dominik stimmte leise in die Worte mit ein. Dann zog Lucien den einfachen Rosenkranz des blonden Jungen hervor und warf ihn auf die feuchte Erde.

Er drehte sich zu Dominik um und griff fest nach dem Arm des Jungen. So fest, dass er den Schmerz auf den Zügen des Fürstensohnes erkannte. „Dominik? Ich will wissen, was los ist. Es ist genug, wirklich genug…“

Sein Freund wandte den Blick ab, schwieg weiter, doch Lucien verstärkte noch seinen Griff. Dominik griff nach Luciens Faust und zog sie fort. Dann traf ihn der Blick der blauen Augen mit eisernen Entschlossenheit. „In Ordnung, Lucien. Der Abt, Bruder Georg, er schändet die Jungen, jeden einzelnen, der ihm gefällt. Immer und immer wieder. Die Mönche wissen fast alle davon, aber irgendeiner von den obersten Geistlichen dieses Landes hält wohl schützend seine Hand über dieses Schwein, so dass keiner gegen ihn vorgehen kann. Manche wie Adrian hat er sich besonders gerne vorgenommen…“ Lucien blieb der Mund offen stehen. Dominik schüttelte den Kopf und seine Stimme klang fast ein wenig wütend. „Tu nicht so, Lucien! Von uns allen warst du doch immer der Rationalste... Du weißt doch am ehesten, wie die Welt wirklich aussieht. Wahrscheinlich hast du bisher einfach nur Glück gehabt. Du bist groß und kräftig und mit deinen dunklen Haaren wahrscheinlich einfach nicht der Geschmack unseres geistlichen Oberhaupts. Pass einfach auf, dass der Abt dich nie irgendwo allein erwischt…“ Lucien fasste Dominik bei den Schultern, zwang ihn den Blick zu erwidern. „Hat er dich auch…?“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, denn der beschämte abgewandte Blick seines Gegenübers war Antwort genug. Lucien Worte waren nur ein Flüstern. „Es tut mir leid.“

Dominik biss die Lippen aufeinander. „Spar die dein Mitleid und bete, dass er dich nicht in die Finger bekommt.“
Lucien warf noch einen letzten Blick zurück zu dem gigantischen unübersichtlichen Grab in dessen feuchter Erde irgendwo Adrians Körper lag, ein gefallener Engel…

Schweigend gingen die Jungen nebeneinander zum Kloster zurück. Lucien bemerkte die stummen Tränen seines Freundes aber er atmete nur tief ein und schritt weiter. Was sollte er sonst tun?

In den nächsten Wochen vermied es Lucien allein zu sein. Wenn der letzte den Raum verließ ging auch er, egal ob die Arbeit getan war, oder liegen blieb. Die Rügen seiner Lehrer waren ihm einerlei. Eines Samstags jedoch wurde von ihm verlangt seine Arbeit zu beenden, auch wenn er dabei die Heilige Messe verpassen würde. Das Skriptorium im zweiten Stock, in dem die fortgeschrittenen Novizen die Heiligen Bücher kopierten und mit wunderschönen Zeichnungen versahen musste ausgefegt und im Anschluss gewischt werden. Eigentlich fühlte sich Lucien sicher. Alle Mitglieder des Klosters waren bei der Andacht und auch der Abt Gregor würde nicht ohne eine auffällige Ausrede davon fernbelieben können.

Der Junge hielt einen Moment inne, öffnete eines der wunderschönen Bücher mit schwerem metallenem Einband und bewunderte die faszinierende Zeichnung auf der ersten Seite

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„Tse, tse, tse. Du solltest so schöne, heilige Gegenstände nicht mit deinen schmutzigen Fingern berühren, mein Sohn.“ Die schmeichelnde dunkle Stimme ließ ihn herumfahren. Er starrte in die dunklen Augen von Abt Gregor, der ihn fast um Haupteslänge überragte und roch seinen feuchten, kalten Schweiß.
Er stammelte ein „Verzeiht, Herr“ und ein „Ich muss meine Arbeit fortführen.“ Er versuchte sich an dem großen ausgezehrten Mann vorbei zu zwängen um nach seinem Besen greifen zu können, doch der Abt hielt ihn an der Kutte fest. „Die Arbeit lässt sich auch später noch erledigen. Vielleicht finde ich auch jemand anderen, der sie dir abnimmt. Würde dir das gefallen?“Luciens Worte waren hart. „Nein. Ich mache meine Arbeit gern.“

Der Abt schüttelte lächelnd den Kopf. „Waren das etwas Widerworte, mein Sohn? Wie heißt du?“
Lucien biss die Lippen aufeinander. Um nichts in der Welt würde er diesem Mann jetzt in dieser Stunde seinen Namen nennen. „Nein, Vater. Das waren keine Widerworte. Ich bedauere nur unsagbar der Messe fortbleiben zu müssen und nicht das Wort des Herren hören zu können, weil ich so langsam gearbeitet habe und deshalb möchte ich mich sputen…“

Der Priester griff nach seinem Kinn, drehte es in seine Richtung, so dass er in die dunklen Augen blicken musste. „Du warst also faul. Trägheit ist eine Todsünde. Weißt du das nicht, mein Sohn?“ Lucien riss sich frei und versuchte den Mann nicht weiter zu beachten.

Dieser griff wieder nach ihm und hielt ihn diesmal mit eisernem Griff fest. „Für wen hältst du dich, mein Sohn, dass du mich, deinen Vater, ignorierst? Auch Hochmut ist eine Todsünde. Deine Bestrafung ist dir gewiss.“ Lucien funkelte zurück. „Wagt es ja nicht…!“ Er wusste in dem Moment, in dem der Priester an ihm riss um ihn herumzudrehen, dass er zu weit gegangen war, aber er war kein Narr und ihm war klar, dass es ganz gleich war, was er zu dem Abt gesagt hätte. Gregor riss an Luciens Kutte, hielt den Jungen am Rücken fest um zu verhindern, dass er sich wehren konnte und versuchte sich gleichzeitig seiner Kutte soweit zu entledigen, dass er zur Tat schreiten konnte. Lucien schlug nach hinten um sich, aber der Mann war zu stark. Er merkte, wie sich der Mönch an seiner Unterhose zu schaffen machen wollte, erstarrte, bekam dann jedoch das schwere Buch mit dem metallenen Einband zu fassen und fuhr rasend schnell herum um es Pater Gregor an die Schläfe zu schmettern.

Einen kurzen Moment war der Mönch benommen, denn verzerrte rasender Zorn seine Züge und er griff erneut nach Lucien. Der Junge war einen großen Schritt nach links gewichen und griff nach einem länglichen Gegenstand, der auf einem der Schreibtische lag. Dann traf ihn der mächtige Fausthieb des Abts und er ging zu Boden. Er war nur eine Sekunde bewusstlos, doch die Zeit reichte dem Mönch um ihn wieder herum zu drehen und ihm die Kutter erneut nach oben zu schieben.

Mit aller Kraft, die ihm verblieben war rammte Lucien den Gegenstand in die Flanke des Mannes und zog ihn wieder zurück. Dieser ließ schlagartig von Lucien ab. Der Junge kämpfte sich unter der Gestalt des Abts hervor und stieß erneut zu. Immer und immer wieder: in den Bauch, den Brustkorb, die Luftröhre, dahin wo er das Herz vermutete. Dann warf er voll Verachtung den blutbeschmierten Brieföffner von sich und übergab sich. Vor ihm lag die hagere Leiche des Abtes mit panischen weit aufgerissenen Augen, die ins Leere starrten. Der Zorn wütete noch immer in dem Jungen und mit aller Kraft riss er den toten Körper hoch, öffnete das Fenster des Skriptoriums, hievte ihn hinaus und ließ die Leiche ins Gebüsch vor die Mauern des Klosters fallen.

Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand des Gebäudes, atmete tief aus und ließ sich auf den Boden sinken. Einige Minuten saß er nur da, erstarrt von dem Schock, der sich seiner bemächtigt hatte. Dann sah er das Blut, das auf den Fließen und seinen Händen klebte. Er riss sich zusammen, sprang mit Mühe auf und holte Wasser um den Boden zu säubern. Mit etwas Glück würde man im Dunkel der anbrechenden Nacht die Spuren seiner Tat bis zum nächsten Sonnenaufgang nicht bemerken. Er schrubbte und wischte und rannte dann während die Mönche und Novizen von der Abendandacht zurück in ihre Räume schlenderten in sein Schlafgemach. Er riss sich die blutige Kutte vom Leib, warf sie unters Bett und griff nach einer neuen. Nach wie vor waren die roten Krusten an seinen Fingern zu erkennen. Als er hörte, dass die Tür geöffnet wurde, warf er sich aufs Bett, tat als würde er schlafen.

Dominik setzte sich ihm gegenüber auf seine Bettstatt und sog tief die Luft ein. Seien Stimme war leise. „Lucien? Alles in Ordnung?“Erst in diesem Moment bemerkte Lucien die Tränen, die seine Wangen hinab liefen. Es fiel ihm schwer das Schluchzen zu unterdrücken.

Der rothaarige Junge trat zu ihm und strich ihm vorsichtig über den Rücken. „Der Abt war bei der Messe nicht da. Hat er dich auch…?“ Lucien fuhr herum und sah den Jungen mit seinen grauen rotunterlaufenen Augen an. „Nein! Das hat er nicht. Er hat’s versucht. Ich habe das Schwein abgestochen und die Klostermauern hinab geschmissen.“ Dominik nickte und Lucien sah ihn an, konnte aber die Regungen in seinem Gesicht nicht lesen: Freude? Angst? Respekt? Seine Worte waren leise: „Das hast du gut gemacht. Es wurde Zeit, dass jemand das Schwein so bestraft, wie er es verdient hat. Adrian wäre stolz auf dich!“

Dann schluckte Dominik und erhob sich. „Du musst weg hier. Man wird dich des Mordes bezichtigen und alle Vergehen des Abtes abstreiten. Selbst dein Freund, Bruder Ignatius, würde sich nicht für dich einsetzen können. In wenigen Tages würde man dich köpfen oder Schlimmeres…“ Er trat zurück zu seinem Bett, bückte sich und holte eine Kiste, die er dort versteckt hatte, hervor. Er griff hinein und förderte ein ordentliches paar Kleider, lederne Stiefel sowie einen kleinen Beutel in dem einige Münzen verheißungsvoll klingelten hervor. „Hier!“ Er reichte alles an Lucien weiter. „Du brauchst das jetzt dringender als ich. Schau, dass du dich in Sicherheit bringst!“ Er wartete bis sich Lucien angekleidet hatte, dann trat er mit ihm in die Dunkelheit der Nacht und ging zur Klostermauer. Der rothaarige Junge drückte Lucien ein letztes Mal an sich. „Pass gut auf dich auf, mein Freund! Ich bin froh dich kennen gelernt zu haben.“ Lucien sah ein letztes Mal zurück, sah über die großartige Kathedrale, den Apfelhain, die Küche, aus der es Tag wie Nacht nach reichhaltigem Essen duftete, zu den Unterrichtsgebäuden. Dann kletterte er an den Steinen hinauf und verschwand in der Finsternis.

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BeitragVerfasst: Sa 16. Mai 2015, 15:30 
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Kapitel V
Frankreich, Frühjahr 1069

Lucien schlug sich die nächsten Monate irgendwie in den Gassen von Paris durch. Er hatte, obwohl er wusste, dass sein Vorhaben erfolglos sein würde, versucht Kontakt zu Pater Ignatius aufzunehmen. Dieser war von dem Anblick des Jungen, der als gesuchter Mörder des ehrwürdigen Abtes Georg galt, völlig eingeschüchtert. Luciens Erklärungen verhinderten zwar, dass der Geistliche sofort nach der Stadtwache schrieb, aber er versagte ihm jede Unterstützung und verlangte, dass Lucien nie wieder unter seine Augen treten solle.
Der Junge tat alles, was notwendig war um zu überleben: wie vor einigen Jahren stahl er, bettelte und ab und an nahm er kleine Botengänge an oder wurde während der Erntezeit für einige Wochen von einem Bauern angestellt. Er schlug sich durch, lebte von der Hand in den Mund. Immer wieder lenkten ihn seine Schritte unbewusst zum Kloster St Denis. Lange stand er vor den hohen Mauern, betrachtete die Kirchtürme, hörte den vertrauten Glockenschlag. Zu gern wäre er während der heiligen Messe ins Innere getreten um zumindest einen kurzen Blick auf Dominik und seine alten Freunde zu erhaschen, aber die Angst davor, dass man ihn erkennen und der Justiz ausliefern könnte war größer.
Irgendwie gelang es ihm den Herbst und Winter zu überstehen und es verwunderte ihn als die ersten warmen Sonnenstrahlen durch die dicken Winterwolken brachen und sich das erste Grün zeigte. In seinem Inneren hatte ein lang andauernder Winter begonnen und die wiedererwachende Welt da draußen hatte für ihn etwas Verhöhnendes, Sarkastisches an sich.

Als es wärmer wurde beschloss er schließlich die gigantische Stadt an der Seine zu verlassen. Er wanderte aus den Stadtmauern, folgte seinen Füßen, wohin sie ihn trugen und es war zur größten Hitze des Sommers als er bemerkte, dass ihn seine Schritte zurück nach Nîmes gelenkt hatten… in die verfluchte Stadt seiner Kindheit. Er ging durch die breiten schattigen Straßen, vorbei an alten römischen Palästen, dem Amphitheater, das man mittlerweile als Stallung für Pferde missbrauchte, durch ärmliche Viertel und die gut situierten Höfe betuchter Handwerksmeister. Man hatte den Palast des offensichtlich zu Reichtum gekommen Vogtes, der die Verwaltung der Stadt inne hatte zu einer mächtigen Trutzburg ausgebaut und auch sonst hatte sich das Leben in der alten Stadt verändert. Die letzten Jahre hatten offensichtlich reiche Ernte beschert.


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Nachdem Lucien mehrere Wochen in der Stadt gehaust hatte, mal in den Armenvierteln, mal unter den großen mächtigen Brücken, mal in den alten römischen Ruinen, entschloss er sich vorsichtig das Gasthaus seiner Tante und ihres Mannes aufzusuchen. Es verwunderte ihn statt der ehemaligen Wirtschaft an gleicher Stelle ein Freudenhaus vorzufinden. Er vergewisserte sich ausgiebig, dass die Gastleute nicht zu Hause waren, erblickte irgendwann Julianna, die Richtung Markt zum Einkaufen schritt. Lucien wartete nicht lange, sondern trat schon nach wenigen Hausecken an ihre Seite. Das Mädchen hatte sich sehr verändert, war kaum wieder zu erkennen und es selbst brauchte auch einige Sekunden um zu begreifen, wer vor ihm stand. Die beiden nahmen kurz im Schatten der großen Platanen auf einer der Brücken Platz und Julianna berichtete: Nachdem Lucien weggelaufen war, hatte die Familie mit weiteren Problemen zu kämpfen gehabt. Das gute Geld, das der Junge verdient hatte, fehlte und seinem Onkel war schließlich durch einen flüchtigen Bekannten zu Ohren gekommen, dass sich mit einem Freudenhaus leicht Geld verdienen ließ. Er besorgte sich in den schmutzigsten Straßen der Stadt einige halbwegs ansehbare Mädchen und begann das Geschäft. Nachdem man dem Gastwirt immer häufiger horrende Summen für den Beischlaf mit seiner Tochter bot, hatte der Mann schließlich zugestimmt und auch Julianna mit in das nächtliche Programm aufgenommen. Womit er allerdings nicht gerechnet hatte war, dass sich einer der Freier, ein grobschlächtiger Preisboxer in das hübsche Mädchen verliebte. Als Luciens Onkel sich weigerte das Mädchen frei zu geben um es dem Kämpfer zur Frau zu geben, prügelte dieser den Wirt und dessen Frau windelweich. Der Preisboxer ließ einen Vertrag aufsetzen, der von Juliannas Vater notgedrungen unterzeichnet wurde, der das Bordell an seine Tochter überschrieb und heiratete dann das junge Mädchen. Julianna hielt bei ihrem Bericht die Augen gesenkt. Das alles war zwar gegen ihren Willen geschehen, aber der Mann behandelte sie gut und wenigstens war sie als Hausherrin nun in der Lage ihre Freier selbst zu wählen. Luciens Tante und ihr Mann wurden in hohem Bogen aus dem Haus geworfen und waren seit diesem Tag nicht mehr gesehen worden.
Der braunhaarige Junge strich sich durch die verfilzten Haare und erzählte ebenfalls wie es ihm ergangen war. Dann blickte er sie lange an und bot ihr an, sie mitzunehmen. Julianna lachte nur über sein Angebot und schüttelte den Kopf: Lieber als Hure mit einer sicheren Mahlzeit im Bauch und einem Dach über dem Kopf als das Leben eines Bettlers und Diebes. So trennten sich ihre Wege erneut und Lucien sah Julianna nie wieder.

Eines Nachmittags im September ergab sich eine Wendung, die Luciens weiteres Schicksal verändern sollte: Der Junge hielt sich im Schatten der Marktstände verborgen. Es war auch im Herbst noch immer heiß im Süden von Frankreich und sein dreckiges Leinenhemd klebte ihm verschwitzt am Körper. Er betrachtete die Passanten, sah den ein oder anderen Edelmann oder reiche Kaufleute, deren Säckel verheißungsvoll klingelten, aber die meisten waren zu wachsam, ließen immer wieder die Hand auf ihre Börse oder an ein daneben befestigtes Messer wandern und Lucien wagte es nicht sich zu nähern. Schließlich betraten ein reicher Mann in edlen Gewändern mit zwei Wachen den Marktplatz. Interessiert fuhr Lucien hoch. Die schwer bewaffneten Wachen sollten sicherlich mögliche Diebe abschrecken, aber sie waren so selbstüberzeugt, dass sie nachlässig vor dem Edelmann her schlenderten und miteinander über den Dienst plauderten, dass sich die Börse des reichen Mannes als lohnende Beute entpuppen sollte.


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Während der Mann mit seiner Begleitung an einem Stand mit exzellent geschmiedeten Dolchen stehen blieb und die Waren inspizierte, näherte sich Lucien geschäftig wirkend, hinter zwei Handwerkergesellen als würde er zu ihnen gehören. Im kurzzeitigen Durcheinander, dass entstand als sich die beiden an dem Marktstand an den Kunden vorbei drängen wollten, holte Lucien ein kleines Messer hervor und schnitt den prall gefüllten Beutel vom Wams des Edelmannes ab. Unglücklicherweise blickte genau in diesem Augenblick eine der Wachen in seine Richtung und zeigte brüllend auf ihn: „Dieb! Haltet ihn!“ Die Hand des Edelmannes schoss nach vorne zu Luciens Hals, aber der Junge duckte sich rasant und war schneller. Er huschte zwischen den Passanten hindurch, sprang über einen der Marktstände, stets dicht gefolgt von den schreienden Wachleuten, die jedoch in ihren Rüstungen bei weitem nicht so behände waren. Er eilte um eine Kurve und wurde von einer festen Hand zurück gerissen. Zwei braune Frauenaugen starrten ihn an. „Hier runter, los!“ Sie drückte Lucien nach unten und schob ihn unter die ausladende Decke des Ladentisches, an dem sie gerade stand. Der Händler blickte sie leicht irritiert an, schwieg jedoch auch in dem Augenblick in dem die Wachen an dem Stand vorbei rannten. Schwer atmend harrte Lucien geduckt aus. Irgendwann lüftete sich die Decke und die Frau streckte ihm die Hand entgegen um ihm aufzuhelfen. Seine Retterin war wohl um die 40 Jahre alt mit drallen Hüften und üppigem Vorbau. Grinsend streckte sie das Kinn nach vorne und wechselte die letzten Worte mit dem Händler.


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„So, hier hast du die Ladung von dieser Woche. Fiel ein wenig ärmlich aus. Bei dem heißen Wetter sind nicht so viele Reisende unterwegs. Nächste Woche wird’s abkühlen, ich spürs in den Knochen. Dann gibt’s wieder mehr gute Sachen für dich zum Verticken.“ Der Mann nickte. „Grüß mir Ongar und die Jungs, ja?“ Die Frau lachte. „Sicher.“

Dann griff sie Lucien an der Schulter und führte ihn mit festem Griff in eine der ruhigen Seitenstraßen. Sie musterte ihn noch einmal mit schelmischem Grinsen. „Und du, mein Junge? Wer bist du?“

Lucien verzog abwägend den Mund, schwieg aber.

Wieder lachte die Frau. „Keine Angst, ich beiße nicht. Kannst mir ruhig deinen Namen nennen.“
„Lucien Sabatier.“

Sie nickte und streckte ihm die Hand entgegen. „Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Lucien Sabatier. Ich bin Claudette. Du bist ganz schön mutig. Weißt du, wen du dir da gerade zum Feind gemacht hast?“

Lucien schüttelte den Kopf.

„Das war der Vogt von Nîmes, Gerard Rifaud. Er ist mächtig und mit ihm sollte man sich besser gut stellen. Das bekommt allen besser. Mach ihn dir nicht zu Feind.“
Lucien schluckte, doch die Frau klopfte ihm ermutigend auf die Schulter.

„Du bist ein geschickter Bursche und flink wie ein Wolf. Hast du heute Nacht schon einen Schlafplatz?“

Lucien schwieg erneut.

„Dacht ich’s mir doch. Was hältst du davon mitzukommen? Mein Mann Ongar und ich, sowie seine Jungs wohnen im Wald, gar nicht so weit weg von hier und ich versichere dir, da lebt es sich gar nicht schlecht. Na, was hältst du davon? Ich denke, du würdest dich bei der Truppe gut machen… außerdem hab ich ein Herz für heimatlose Tiere.“ Sie lachte.

Lucien leckte sich über die aufgesprungenen Lippen. „Ihr seid Räuber, oder?“

Die Frau beugte sich zu ihm hinab, setzte eine verschwörerische Miene auf. „Schreckt dich das?“

Er schüttelte den Kopf, lachte schwach. „Nein. Mich schreckt, glaub ich, nichts mehr.“ Dann nickte er und folgte

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BeitragVerfasst: Fr 11. Sep 2015, 18:25 
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Kapitel VI

Nimes, 1075

Lucien ritt durch die dichten, umliegenden Wälder von Nimes. Die Hügel, seine Hügel, waren als Räubergebiet verschrien und nur ab und an verloren sich Reisende auf den überwucherten Wegen. Er ließ sein braunes Pferd in einen leichten Galopp fallen und genoss den Wind, der ihm ins Gesicht schlug. Rurik, der einäugige, ehemalige Söldner, den der Räuberhauptmann Onger heute als Führer ihres kleinen fünfköpfigen Trupps bestimmt hatte, rief ihm laut hinterher um ihn zu bremsen. „Hey, Lucien. Keine Einzelmanöver heute!“


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Ein kurzes „Ja, Ja“ war das einzige, was er vernehmen konnte bevor der junge Mann auch schon um die nächste Wegbiegung verschwunden war.

Lucien lebte seit über fünf Jahren bei den Räubern. Die Männer und deren wenige meist unehelichen Frauen hatten ihn bereitwillig aufgenommen und schnell zu einem Teil ihrer seltsamen Familie gemacht. Alle lebten und arbeiten gemeinsam in ein paar Hütten, tief versteckt im Wald und egal ob Sommer oder Winter, sie kamen dank der unvorsichtigen Reisenden und reichen Händler auf dem Weg nach Italien oder Nordfrankreich ganz gut über die Runden.

Lucien war zwar ein ungeübter Reiter, aber geschickt mit dem Schwert und mutig immer in den ersten Reihen, wenn es darum ging einen Pulk großmäuliger Ritter, die ihr Selbstvertrauen aus ihrer prächtigen Rüstung und nicht aus ihrem Können zogen, in die Flucht zu schlagen.

Sein Pferd verharrte auf einer Hügelkuppe und sein Blick schweifte über die ausgedehnte Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete. In weiter Ferne erblickte er schneebedeckte Bergspitzen, er hörte das Rauschen eines wilden Flusses ganz in der Nähe.


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Dann sah er sie: ein kleiner Trupp Reisende ritt auf der einzigen engen Straße in wohl fünfhundert Meter Entfernung dahin. Anhand der bunten Kleidung vermutete er reiche Händler oder Adelige auf der Durchreise. Eine exzellente Gelegenheit die Truhen der Räuber ein wenig zu füllen.
So schnell es ihm möglich war ohne unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken ritt er zu seinen Leuten zurück und erstattete Rurik Bericht.

Die fünf Räuber hatten sich in einiger Entfernung vor dem Tross in Stellung gebracht und erwarteten die Reisenden ungeduldig. Auch wenn Lucien schon hundert Mal bei solchen Überfällen teilgenommen hatte, schlug ihm auch zu diesem Zeitpunkt das Herz bis zum Hals und er wischte sich vorsichtig die schwitzigen Hände an seinem Leinenhemd ab bevor er zu seinem Schwert griff. Auf ein Zeichen von Rurik stürzten sich die fünf Straßenräuber gleichzeitig auf die völlig überraschte Gruppe. Drei der Reisenden ergaben sich sofort, was Lucien aus dem Augenwinkel an den erhobenen Händen erkannte. Der Anführer der Truppe jedoch, ein blonder Mann mittleren Alters in Lederrüstung versuchte mit einer jungen, reich gekleideten Frau die Flucht zu ergreifen. Rurik und Lucien nahmen augenblicklich die Verfolgung auf und hatten die beiden Reiter schon nach zweihundert Metern am rauschenden Wasser des Wildbaches, der den Weg überflutete, gestellt.

Die beiden Reiter verharrten. Der Offizier zog zwar sein Schwert aber als er sah, dass der bewaffnete Lucien bereits bei der jungen Frau zu stehen kam, ließ er seine Klinge sinken. Offensichtlich war es seine Aufgabe diese zu beschützen und er vermied es ein Risiko einzugehen, dass sie in Gefahr bringen konnte.

Der junge schwarzhaarige Mann warf einen Blick zu der jungen Frau und sog scharf die Luft ein. Das Mädchen war wohl ungefähr in seinem Alter. Rote, wilde Locken umrahmten ein blasses, fein geschnittenes Gesicht, und blaue, überhebliche Augen funkelten ihn wütend an. Lucien konnte ihr ansehen, dass sie ihm am liebsten mit den perfekten Nägeln ihrer fein manikürten Hand das Gesicht zerkratzt hätte. Ihr Atem ging schnell und ihm entging nicht, wie ihre Brust sich bei jedem Atemzug hob und senkte.


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Rurik machte sich daran den Offizier zu entwaffnen und notdürftig die Hände zu fesseln. Das rothaarige Mädchen schoss einen Blick in deren Richtung und sie fuhr ihren Begleiter in vollkommenem Latein an. „Martell! Ihr habt mir versichert, wir wären vor Räubern sicher! Wenn mein Vater davon erfährt, dass ihr uns in Gefahr gebracht habt ist eine Entlassung aus seinen Diensten wohl die geringste Bestrafung, die ihr euch ausmalen könnt.“ Der Offizier, den sie mit ‚Martell‘ angesprochen hatte, sah verständnislos in ihre Richtung und auch Rurik zog die Knoten seiner Fesseln fester ohne ein Wort der fremden Sprache zu erfassen. Lucien lächelte sein typisches schiefes Lächeln und griff ihrem Pferd in die Zügel.

„Ich schätze, euer Begleiter hat nicht die nötige Bildung genossen um mit euch in diesem Moment Konversation betreiben zu können.“

Ihr Kopf fuhr zu ihm herum und erst in diesem Moment bemerkte sie den jungen Mann wirklich, der ihr Pferd an einem Baum festband und sie nicht aus den Augen ließ. „Und ihr seid?“ Sie hob eine Augenbraue und Lucien erkannte, dass er sie aus dem Konzept gebracht hatte. Sie gab sich selbst die Antwort. „Offensichtlich ein gebildeter Räuber, auch wenn euer Latein durchaus verbesserungswürdig ist. Hat die Welt so etwas schon einmal gesehen?“

Lucien lächelte und zeigte seine weißen Zähne. „Meine Dame? In der Welt gibt es so einiges, was ihr noch nicht kennt, scheint mir. Und der ein oder andere Räuber, der mehr kann als mit einer scharfen Klinge vor unvorsichtigen Reisenden in der Luft rumzufuchteln, mag mit Sicherheit dazu gehören.“ Er überlegte ob er sie vom Pferd ziehen sollte, wie er es für gewöhnlich tun musste, und die Vorstellung sie für einen kurzen Augenblick dicht an seinem Körper zu spüren erregte ihn, aber dann hielt er ihr höflich die Hand hin.

Prüfend verengten sich ihre Augen, dann umspielte ein feines Lächeln ihre Lippen. Sie reichte ihm ihre Finger und ließ sich von ihm vom Pferd helfen. Lucien spürte, dass sie ihm dabei näher kam als sie eigentlich musste. Sie sog tief seinen Geruch ein, beugte sich zu ihm hinüber und schenkte ihm ein herausforderndes Lächeln. „Ihr seid nur ein einfacher Räuber, ein gesetzloser Wegelagerer. Was wisst ihr schon?“

Lucien erwiderte den Blick mit der gleichen Entschlossenheit und kam ihrem Gesicht noch näher, so dass nur noch eine Handbreit sie trennte. „Und ihr seid nur die Tochter eines reichen Mannes, sitzt Tag für Tag wohl behütet in eurem Palast. Was wisst ihr schon?“
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe. „Touché.“

Der junge schwarzhaarige Mann bemerkte den kurzen Blick, den Rurik in seine Richtung warf. „Verzeiht mir, My Lady, aber ich müsste euch nun kurz eures Schmucks entledigen. Ihr tut damit eine wohltätige Spende für arme Vagabunden.“ Er schmunzelte ihr zu. „Außerdem seid ihr so schön, dass ihr solchen Zierrat gar nicht bedürft. Er lenkt nur vom Blau eurer Augen ab.“

Er fuhr mit seinen Fingern an ihr linkes Ohr, strich ihr vorsichtig eine Haarsträhne zurück und löste sacht das goldene Ohrgehänge. Dann folgte die rechte Seite und fast unmerklich berührte er dabei ihre weiche Wange. Er schmunzelte, griff nach ihrer Hand, ließ seine Lippen als Handkuss einen Moment auf ihrem Handrücken verweilen und streifte ihr dann einen juwelenbesetzten Ring vom Finger. Er griff nach einem Beutel an seiner Rechten und ließ die Schmuckstücke darin verschwinden. Dann wanderte sein Blick zu ihrem schmalen Hals. Eine einzelne goldene Münze mit dem Wappen Nimes ruhte an einer glänzenden Kette in der runden Kuhle oberhalb des Brustbeins. Sollte er sie ihr belassen? Er sah in eine andere Richtung, tat so als hätte er den Anhänger nicht bemerkt, doch das Mädchen griff ihn sanft an der Schulter. Sie hatte sich selbst die Kette vom Hals genommen und hängte sie dem jungen Räuber mit einem spöttischen Lächeln um. Ihre Finger ruhten dabei einen Sekundenbruchteil zu lang an seinem Nacken.

„Solltet ihr irgendwann in ferner Zukunft einmal nach Nimes kommen, wäre es mir eine Freude gemeinsam mit euch unsere lehrreiche Konversation fortsetzen zu können. Ich studiere für gewöhnlich in den Abendstunden in einer ruhigen Laube im Garten meines reichen Vaters und ein wenig gebildete Gesellschaft wäre mir dabei sehr recht. Ich könnte euch helfen euer Latein zu verbessern…“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem wissenden, amüsierten Lächeln.

„Und es gibt sicherlich auch einiges, das ich euch beibringen könnte.“

„Da bin ich mir sicher.“ Sie grinste. „Was denn zum Beispiel?“

Lucien schmunzelte ihr zu und ließ seinen Blick dann flüchtig über die Bergrücken, das Grün des Waldes, das sprudelnde Weiß und Blau des Wildbachs wandern. „Zum Beispiel was es bedeutet frei zu sein.“

In ihren Augen erkannte er ein kurzes Aufflackern, dann nickte sie anerkennend. „Mein Name ist Florine Rifaud. Es war ein interessantes Erlebnis euch kenne lernen zu dürfen.“

Als Rurik und seine Männer in den Abendstunden zurück zum Lager ritten, waren alle in Hochstimmung. Sie hatten reiche Beute gemacht und zur Feier des Tages wurde ein Hammel gebraten und ein extra Fass Bier angeschlagen. Die Stimmung kippte jedoch als der Hauptmann, Onger nach näheren Informationen verlangte und Rurik bereitwillig von den Wappenröcken der Reisenden und ihrem Raubzug berichtete. Onger war außer sich vor Wut, und Rurik sowie die anderen sahen den alten Hauptmann irritiert an während er seine zornigen Flüche und Beschimpfungen auf seinen Stellvertreter nieder schmettern ließ und dabei drohend die Fäuste hob.


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Lucien ließ das fettige Stück Hammelfleisch, das er grad zum Mund führen wollte sinken und sah zu Ongers Frau Claudette, die ihm seufzend einen Krug Bier in die Hand drückte.
„Ich hab dir doch schon vor Jahren erzählt, dass der Vogt ein mächtiger Mann ist und dass man sich von ihm besser fern hält. Das heute im Wald waren seine Männer und wenn ich richtig vermute seine Tochter.“ Fügte sie erklärend hinzu.

Lucien verschluckte sich an dem Bier, das er gerade im Mund hatte und bekam von der kräftigen Frau auf den Rücken geklopft.
„Nicht so gierig, mein junger Wolf.“ Dann ging sie mit ihrem Bier zum nächsten weiter.

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BeitragVerfasst: Do 17. Sep 2015, 19:55 
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Kapitel VII

Nimes, 7 Tage später

Lucien fand den Weg zum Haus des Vogts in Nimes ohne Umschweife. Er musterte die Wachmänner in ihren prächtigen Rüstungen an denen er sorglos vorbei schlenderte und amüsierte sich über deren Nachlässigkeit. Wussten diese Männer denn gar nicht wie ihre Arbeit verrichtet werden sollte? Offensichtlich nicht, denn sonst wäre Räuber und Diebe wie er arbeitslos. Wären das seine Männer und ihm obläge der Oberbefehl, er würde ihnen ordentlich die Leviten lesen und den einen, der sein mächtiges, aber schweres Schwert nachlässig abgenommen und an die Wand gestellt hatte, während er mit seinem Kumpan sprach, mit ein paar kräftigen Ohrfeigen belohnen…

Aber glücklicherweise waren das nicht seine Männer und so gelang es ihm ohne Mühe ungesehen über die hohe Mauer zu klettern.


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Der Garten, der das neu gebaute prächtige Anwesen des Vogts umgab, war verwildert und ein Paradies aus grünem Schatten und roten Farbtupfern, die die untergehende Sonne auf die steinernen Mauern, die weißen Kieswege und die in Pastelltönen blühenden Obstbäume warf.
Lucien sah sich vorsichtig um, als er aber auch nach langem Zögern keine einzige Wache im Park erblicken konnte, schritt er wacker im Halbdunkel über die Wege und Wiesen auf der Suche nach der Laube.

Er fand sie schließlich und auch das Mädchen, das den Kopf nach hinten gelehnt auf einer Bank saß und über die Baumwipfel blickte, ein Buch im Schoß. Ihr rotes Haar leuchtete obwohl die Sonne bereits verschwunden war.


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Er sprang von einer niedrigen Mauer, kam vor ihr im Gras auf und deutete grinsend eine Verbeugung an. „Meine Dame? Zu euren Diensten oder wie immer das heißen mag.“

Sie erschrak für einen Sekundenbruchteil und erhob sich mit einer unerwarteten Geschwindigkeit. Als sie ihn erkannte blitzte der Schalk in ihren Augen. „Der gebildete Räuber? Sieh einer an…“

„Räuber, Taschendieb, Gerbergeselle, Küchenjunge, Schnitzer, Klosternovize… was immer euch beliebt.“ Lucien hielt inne und biss sich auf die Lippe. Mit diesem einen Satz hatte er dem Mädchen mehr über sich erzählt als ihm eigentlich lieb war.

„Brave Tochter, einziges Kind, faule Schülerin, wertvolles Gut auf dem Hochzeitsmarkt. Sucht euch was aus. Eure Karriere klingt um einiges interessanter, wenn auch nicht so erfolgversprechend wie meine.“
Sie ließ sich wieder auf der Bank nieder und der schwarzhaarige junge Mann nahm nach einem kurzen Zögern am gegenüberliegenden Ende Platz. Florine legte das Buch ins Gras und sah ihn an. „Und? Wonach dünkt es euch wirklich? Was wäre euch am liebsten? Wo wäret ihr gerne?“ Sie beugte das Kinn ein wenig nach vorne und schenkte ihm ihre volle Aufmerksamkeit.

Lucien war überrumpelt. Bisher hatte ihm nie jemand eine solche Frage gestellt. „Unabhängigkeit… ich will mich nicht tagtäglich vor irgendjemand, der sich ohne Grund für besser, schlauer, höher hält bücken müssen. Wenn’s mit dem Räu… äh… meinem derzeitigen Tagewerk nicht klappt, würd‘ ich bestimmt einen guten Soldat oder Wachmann abgeben.“ Er deutete mit dem Daumen in Richtung des nicht sichtbaren Eingangs des Gartens. „Auf jeden Fall wäre ich um ein Dutzend Mal besser als die Männer eures Vaters.“

Sie lachte. „Das glaub ich euch gern. Die sehen das, was sie sehen wollen, sonst nichts. Das ist ja das Schöne…“

Lucien redete mit dem rothaarigen Mädchen bis der Mond über den Wipfeln der Bäume aufging. Sie sprachen über ihre Leben, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Ihres, als einzige, geliebte, wohlbehütete Tochter eines zumeist hartherzigen aber reumütigen Vogts, der den Verlust seiner Frau, die er aufgrund seines Wunsches nach einem männlichen Erben trotz Anraten der Ärzte zu immer weiteren Schwangerschaften gedrängt hatte, bis sie schließlich bei einer der Fehlgeburten verblutet war, nicht verkraftet hatte. Aus Gram hatte er nie wieder geheiratet und versuchte nun durch die Hingabe zu der einzigen Tochter Absolution zu erhalten.
Er berichtete über die Grafschaften und Länder die er gesehen hatte, die Menschen, denen er begegnet war, das Elend, das zwischen den breiten Gassen in den kleinen Nebenstraßen versteckt war und die Momente, die das Leben dennoch lebenswert und kostbar machten.

Als er sich schließlich erhob um den Garten wieder zu verlassen grinste er sie noch einmal an.
„Und, Mylady. Was erzählst du deinem Vater, wenn er erfährt, dass du dich mit einem Räuber abgibst?“

Wieder erklang ihr leises Lachen. „Halt meinen Vater nicht für einen Ehrenmann, Lucien. Er hat seine Finger in so vielen krummen Geschäften, dass nur er noch in der Lage ist den Überblick zu behalten.“ Sie stand ebenfalls auf und schmunzelte ihn von der Seite an. „Was ich meinem Vater sagen würde? Ich würde mich nie mit einem Räuber abgeben, mein Herr. Ich unterhalte mich nach dem Gottesdienst mit einem fähigen, sehr vielversprechenden jungen Mann, der sein Geld im Fernhandel verdient. Eine gute Wahl.“

Er zog sie an sich und stahl ihr einen Kuss von den Lippen. Und er wusste, dass sie ihn gewähren lassen würde.

Dann grinste er noch einmal und verschwand in der Dunkelheit.

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BeitragVerfasst: Mo 21. Sep 2015, 17:48 
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Kapitel VIII

Nimes; 4 Monate später

Lucien spürte die warme, weiche Haut, roch ihren Atem, der wie ihre Küsse einen Hauch von Zimt und Karamell enthielt. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, küsste er ihre geschlossenen Lider, fuhr über das weiche rote Haar, das ihr ins Gesicht fiel. Florine war alles, wovon ein Mann träumen konnte und er zweifelte nach wie vor daran, dass er tatsächlich das Glück besitzen sollte, ein solches Mädchen sein eigen zu nennen. Sie war klug, mutig, widerspenstig und Lucien wusste, dass er der einzige Mann war, den sie in ihrem Inneren wirklich respektierte. Sie wollte wissen, wer er wirklich war, wovon er träumte, was ihn beschäftigte; eine unbekannte Erfahrung.

Florine drehte sich im Schlaf und schmiegte sich noch näher an ihn. Tief atmete er ihren Duft ein, als ihn ein plötzliches Geräusch stutzig machte. Von irgendwo her in diesem großen Anwesen hatte er eine Stimme gehört. Aber er musste sich geirrt haben. Vorsichtig schob er die Decke zurück, griff nach seiner Hose und streifte sich das weiße Leinenhemd über. Er schlüpfte in die schweren Stiefel ohne sie zu schließen und legte dem schlafenden Mädchen behutsam die Decke um die nackten Schultern. Dann schlich er sich zur Tür und öffnete sie leise. Er spähte hinaus und ging, als er sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, auf leisen Sohlen durch die Gänge des riesigen Guts des Vogtes. Einmal musste er hinter einem Vorhang in Deckung gehen als ein Wachmann leise pfeifend seine Runden drehte, aber Lucien kannte die zuverlässige Nachlässigkeit der Wächter und trat bereits wenige Sekunden nachdem dieser um die Ecke gebogen war wieder hervor.

Er folgte den aus einiger Entfernung kommenden lauten Stimmen und stand schließlich im ersten Stock neben der Balustrade in der großen Eingangshalle des Vogtes und blickte über die breite Treppe nach unten. Sein Mund öffnete sich voller Erstaunen und es fiel ihm schwer ihn wieder zu schließen, so unvorstellbar war das Bild, das sich ihm bot. Ein kurzer Schauer lief ihm über den Rücken als ihm bewusst wurde, dass seine Sinne ihn nicht getäuscht hatten. Die laute, melodische Stimme des Vogtes riss ihn zurück in die Wirklichkeit und ließ ihn weiter in die Schatten des Treppenhauses weichen.

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„Mein guter, alter Freund. Wie schön, dass du dich mal wieder bequemst bei mir zu Gast zu sein. Es muss sicher schon vier Monate her sein“.

Lucien blickte zum Vogt hinab, der in seiner reichen, bequemen Gewandung mit offenen Armen den anderen Mann begrüßte und unterdrückte ein Kopfschütteln als er die wohlbekannte Stimme vernahm. Dort unten, flankiert von zwei Wachmännern, die ihn in höflicher Distanz nach drinnen geleitet hatten, stand Ongar, der Hauptmann der Räuber und deutete eine Verbeugung an. „Mein Herr.“

Der Vogt klopfte ihm auf die Schulter und deutete dann zu den Lederbeuteln an Ongars Gürtel. „Nicht so förmlich, mein alter Freund. Ich sehe, du trägst schwere Last bei dir. Komm doch mit in unsere gute Stube! Dort kannst du dich erleichtern.“ Mit einer nachlässigen Handbewegung verscheuchte er seine Wachen, die mit einer Verbeugung Richtung Eingangsportal verschwanden. So vorsichtig, wie Lucien vermochte schlich er hinter den beiden Männern her, die es sich im reich geschmückten Jagdzimmer des Edelmannes bequem machten. Der Vogt ließ für den Räuberhauptmann Wildbret auftischen und langte selbst immer wieder herzhaft zu. Dabei lachte er laut, doch im Gegensatz zu Ongar, der immer wieder zum Pokal mit dem schweren roten Wein griff und sich mehr und mehr entspannte, vernahm Lucien die unterschwellige Wachsamkeit und den Hauch von Bedrohung in diesem Lachen. Lucien verbarg sich im Schatten und sah, wie der Vogt seinen Pokal abstellte und erneut von einem Mundschenk füllen ließ.

„Mein guter Freund. Ich habe dein Kommen schon seit einiger Zeit erwartet. Du hast dir reichlich Zeit gelassen. Das entspricht nicht unserer Abmachung.“

Ongar nickte, zog die Beutel unter seinem Wams hervor und warf sie fast achtlos auf den Tisch. Blanke goldene Münzen fielen heraus und rollten über den Tisch. Der Vogt griff danach und prüfte eine mit den Zähnen bevor er sie wieder zu den anderen legte. Ongar kaute schmatzend und schluckte bevor er sprach. „In letzter Zeit sind nicht so viele Handelszüge durch die Gegend unterwegs gewesen, Herr. Das Räuberleben hat einfach nicht genug eingebracht und von irgendwas müssen wir im Wald schließlich auch leben.“

Die Stimme des Vogtes hatte etwas Schneidendes. „Und da entscheiden sich deine Leute dazu aus Mangel an Alternativen auch die Männer des Vogtes, meine Männer, anzugreifen und auszurauben?“

Ongar hatte den drohenden Unterton nicht bemerkt und zuckte zusammen als der Vogt seine Faust auf den Tisch schmettern ließ, so dass die Pokale schaukelten. „Es ist mir gleich, wovon ihr lebt oder ob ihr vor die Hunde geht.“

„Herr, das müsst ihr verzeihen. Ich hab die Männer, die eine solche Dummheit begangen haben, längst zur Rechenschaft gezogen und ihnen den Oberbefehl entzogen. Ich bitte tausend Mal um Entschuldigung, Meister.“ Ongar neigte demütig das Haupt und Lucien wurde fast schlecht. Wo war der tapfere Mann, der jeden Tag aufs Neue verkündete, dass sie sich vor niemandem beugen mussten, dass sie frei waren, dass man zwar Steckbriefe aufsetzen, sie aber nie erwischen konnte?

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„Wenn so etwas noch ein Mal vorkommt, Ongar, ist unsere geschäftliche Vereinbarung beendet und ihr könnt sehen, wo ihr bleibt, egal was du mir an Schätzen mitbringen magst. Und glaub mir, meine Truppen finden auch die winzigste Maus im tiefsten, finstersten Gestrüpp der Wälder. Und wenn ich sie persönlich auspeitschen muss um ihre Effizienz zu erhöhen! Meine Tochter war bei diesem Überfall dabei und sie ist noch immer ganz verängstigt und verstört und verbringt ihre Tage und Nächte seitdem lieber allein in ihrer Kammer oder im Garten. Ich dulde keinen Ungehorsam! Ist dir das klar, mein Freund?“

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Die letzten Worte sprach er mit so eiskalter Stimme, dass Lucien schlucken musste. Ongar nickte wie ein kleiner reumütiger Junge, dem man eine Ohrfeige verpasst hatte. Lucien hatte genug gesehen. Langsam drehte er sich um und wandte sich zum Gehen. Im letzten Moment drückte er sich in den Türsturz zu einer Besenkammer, bevor ein Küchenmädchen um die Ecke bog um das Geschirr abzuräumen. Er strich sich die schwarzen Haare aus der Stirn und hastete zurück in den ersten Stock zum Zimmer von Florine. Er musste fort, zurück ins Lager. Er musste hören, dass all das, was er vermutete nicht wahr sein konnte, dass es eine vernünftige Erklärung gab. Auch wenn er sich wünschte auch den Rest der Nacht mit dem wunderbaren rothaarigen Mädchen verbringen zu können, seiner Florine. Tief in seinem Inneren spürte er den Wunsch all dies nie gehört zu haben.

Er atmete tief ein und rannte weiter.




Am nächsten Abend

Lucien schritt an den Hütten des Lagers vorbei und verharrte einen Moment vor der größten und geräumigsten, derjenigen des Hauptmanns.

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Kurz atmete er tief ein, ballte die Fäuste, versuchte seine Finger wieder zu entspannen und klopfte an. Ohne Abzuwarten trat er hinein. Seine Augen gewöhnten sich schnell an das warme Dämmerlicht des Herdfeuers. Clodette schöpfte gerade einen deftigen Eintopf aus einem großen Kessel um ihn ihrem Mann zu reichen. Erstaunt sah sie ihn an und ihre weichen Züge drückten Besorgnis aus.

„Lucien, mein Junge ist alles in Ordnung. So wie du hier herein schneist?“

Lucien verschränkte die Arme vor der Brust. Er war kein Narr- er wusste, es war ein Fehler hierhergekommen zu sein. Aber er brauchte Gewissheit. Mit dem Kinn deutete er zu Onger, der am Tisch saß. „Ich will mit unserem Hauptmann reden!“

Clodette sah ihn einen Moment an, erwartete, dass er fortfuhr. Als dies nicht geschah, zuckte sie mit den Schultern, betrachtete das seltsame Szenario und verließ dann mit einem Eimer die Hütte um Wasser zu holen. Die Stimme des Hauptmanns hatte einen leicht bedrohlichen Unterton. „Was willst du zu so einer späten Stunde, Lucien?“
Lucien trat näher und sah auf den Hauptmann hinab.

„Ihr habt noch immer Hunger, Hauptmann? Nach dem ganzen Wildbret? Und dem Wein?“
Die Augen seines Gegenübers verengten sich zu Schlitzen. „Ich weiß nicht wovon du redest!“
Die Stimme des jungen Mannes wurde härter. „Vom kleinen Nachtmahl bei unsrer Hoheit, dem Vogt. Verdammt, Onger, was habt ihr beim Vogt zu schaffen? Der Mann ist unser Feind, jagt uns Tag für Tag durch die Wälder, knüpft unsere Leute auf!“

Onger erhob sich und mit einer Wucht, die Lucien zwar befürchtet, nicht aber erwartet hatte, schmetterte ihm der kräftige Mann die Faust ins Gesicht. „Meine Geschäfte haben dich nicht zu kümmern, Lucien!“ brüllte er mit unterdrückter Wut.

Lucien wischte sich die blutende Nase am Hemdärmel ab. „Doch, Onger. Es hat mich zu kümmern. Du bist unser aller Anführer, bestimmst wer wen zu welchem Zeitpunkt überfällt.“ Er deutete nach draußen. „Dort, in diesen schäbigen Hütten, leben deine Männer, meine Gefährten, die sich jeden Tag aufs Neue auf dich verlassen, dir vertrauen, deinen Befehlen bedingungslos ohne nachzudenken folgen. Jeder riskiert in jeder einzelnen Nacht sein Leben für das wenige was wir erbeuten, für etwas Brot, ein Dach über dem Kopf und ein geflicktes Gewand, das einen vielleicht auch im Winter ein wenig wärmt.“ Der unterdrückte Zorn wich blanker Enttäuschung. „Also: Sag mir: Wie weit her ist es mit deinen Rufen: Wir sind frei! Niemand bestimmt über unser Leben! Zum Teufel mit dem reichen Pack?“

Onger schien mit sich selbst zu kämpfen und zu überlegen ob er erneut auf den jungen Mann losgehen sollte. Er entscheidet sich dagegen. „In welcher Welt lebst du, Lucien? Wir sind keine edlen Räuber. Wir sind Scharlatane, Diebe und mitunter Mörder. Jeder muss sehen wo er bleibt. Der Vogt und ich, wir haben ein Abkommen: Er lässt uns ungeschoren die Handelstrosse de reichen Händler überfallen und dafür erhält er von uns die Hälfte der Beute. So sind wir alle zufrieden.“

Lucien wollte am liebsten vor ihm ausspeien aber er unterdrückte den Instinkt im letzten Moment. „Und was ist mit all den guten Männern, die der Vogt in den letzten Jahren erwischt und aufgehängt hat.“

Onger machte eine wegwerfende Handbewegung. „Der ein oder andere musste leider dran glauben. Es würde zu viel Verdacht schöpfen, wenn wir Räuber immer ungeschoren davon kommen würden. Der Fürst von Toulouse käme sonst vielleicht auf die Idee einen anderen Verwalter als den Vogt mit der Verwaltung von Nimes zu betrauen…“

Ungläubig schüttelte Lucien das Haupt. „Alles nur leere Floskeln… Das ist nicht richtig.“

Onger drückte seinen Arm. „Und was, mein Junge, wäre die Alternative? Dass der Vogt auf uns Jagd macht! Glaubst du, wir hätten eine Chance? Er hätte uns ausgeräuchert, schneller als wir aufs Pferd springen könnten. Komm wieder zu dir und werd erwachsen!“ Der Griff wurde fester, schmerzte Lucien wie die gebrochene Nase. „Ich erwarte, dass du den anderen gegenüber die Klappe hältst. Einfache Leute brauchen einfache Parolen. Worte, die sie wiederholen, denen sie Glauben schenken wollen. Du veränderst nichts, wenn du ihnen deine! Wahrheit mitteilst außer, dass du Verwirrung stiftest und ich alles leugnen werde. Und? Was glaubst du? Wem werden sie glauben?“

Lucien presste die Lippen aufeinander. Onger machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es wird Zeit, dass du gehst, mein Junge. Die Nacht ist weit vorangeschritten und morgen soll ein Handelstross von Genua hier vorbeiziehen. Ich werde dich mit dem Oberbefehl betrauen. Lucien? Du verfügst über ausgezeichnete Kampffertigkeiten, bist ein heller Kopf und die Leute folgen dir bereitwillig ins Gefecht. Diese Talente gehören gefördert und nicht weg geworfen. Denk darüber nach, wenn du nach draußen gehst.“

Der junge, schwarzhaarige Mann wandte sich zum Ausgang. Er hatte genug gehört. Die barsche Stimme des Hauptmanns hielt ihn zurück. „Was hast du eigentlich im Anwesen des Vogts getrieben?“

Lucien schluckte lautlos, zögerte eine Sekunde und drehte sich dann um. „Ich habe da ein Mädchen, eine der Küchenmägde.“ Seine Hände wurden feucht aber Onger schein die Lüge nicht zu durchschauen.

„Ich will, dass du dich in Zukunft von dort fernhältst. Es ist mir zwar egal, welches Luder du mit deinem besten Stück beglückst, aber ich will kein Aufsehen. Und Lucien? Vergiss eines nicht: Für die Bürger der Stadt, selbst das einfache Volk, sind wir nichts als Abschaum. Gut genug, wenn man mit uns Geschäfte machen kann, die einträglich erscheinen, aber ansonsten nicht besser als der Dreck unter den Fußsohlen. Und merk dir eines: Du gehörst zu uns. Du kannst nicht zurück!“

Lucien wandte sich um und verließ mit hastigen Schritten die Hütte. Sein alter Freund Merten, starrte ihm hinterher. „Hey Lucien? Was ist los? Wo willst du hin?“ Doch Lucien hielt nicht inne.

Er schwang sich auf sein Pferd und hieb dem Tier die Stiefel in die Seiten, so dass es empört wiehernd panisch lospreschte. Lucien spürte die Zweige, die ihm ins Gesicht schlugen, Dornengestrüpp, das an seiner Haut und seinen Kleidern riss, den Taumel, wenn der Hengst über morsche Baumstümpfe sprang und unsanft wieder aufkam. Es war ihm egal, wohin das Tier rannte. Nur schneller, weiter weg…

Plötzlich erstarrte das Tier mitten in der Bewegung und Lucien wurde aus dem Sattel gerissen. Nur mit Mühe hielt er sich am Zaumzeug fest und verhinderte damit, dass er in hohem Bogen davon geschleudert wurde. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen als die Nebelbank vor ihm aufbrach und den Blick auf einen gähnenden Abgrund frei gab.

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Mühsam rappelte er sich auf, kroch auf allen vieren von der schwindelerregend hohen Felswand fort. Dann erbrach er sich endlich.

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BeitragVerfasst: So 11. Okt 2015, 09:12 
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Wald um Nimes; 3 Wochen später


Lucien saß auf einem Baumstamm und fuhr mit einem Schleifstein über die Klinge seines Schwertes um sie zu schärfen. Wieder und wieder führte er die Bewegung durch.
Die letzten Wochen hatte er mit Nachdenken verbracht und sein Freund Merten hatte mehr als ein Mal versucht zu ihm durch zu dringen und gefragt, was los sei, ohne eine Antwort zu erhalten.

Der junge Mann war nicht wieder zum Anwesen des Vogts zurück gekehrt. Er wusste, dass Florine enttäuscht, vielleicht sogar wütend auf ihn war, aber bevor er sich nicht zu einer Entscheidung durchgerungen hatte wollte er sie und die Männer seiner Bande nicht in Gefahr bringen.

Er legte schließlich den Schleifstein zur Seite, griff nach seinem Schnitzmesser und begann ein Stück rotes Buchenholz zu bearbeiten, dass er irgendwo aufgelesen hatte. Er hatte keine konkrete Form im Kopf, wunderte sich aber nicht darüber, dass das Holz schon nach kurzer Zeit die Züge eines edel geschnittenen weiblichen Gesichts mit feinen Locken annahm.
Der Ruf seines Namens holte ihn in die Realität zurück. „Hey Lucien.“ Gilbert, einer der Räuber, trat näher zu ihm heran. Das blonde, strähnige Haar hing ihm locker ins Gesicht und sein rechtes Auge zierte ein violetter Bluterguss, den er sich bei einer Meinungsverschiedenheit mit Onger eingefangen hatte


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Er sah sich kurz um, dass sonst keiner in der Nähe war bevor er weiter sprach. „Ich hab ein Mädchen im Wald aufgelesen. Hat ein wenig verloren gewirkt, das hübsche Ding. Sie sagt, sie wolle zu dir. Ich hab sie an der Brücke am Fluss warten lassen“ Er lachte und grinste zweideutig. „Du weißt ja, was man über die Rothaarigen sagt, oder? Gott, ich beneide dich.“
Lucien sprang auf und warf das Holzstück achtlos ins Gebüsch. Er sah den Mann eindringlich an. Er schluckte und wartete bevor er ansetzte. „Gilbert…“
Doch Gilbert kam ihm zuvor und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Hey, Lucien. Klar, du kannst dich auf mich verlassen. Ich schweige wie ein Grab.“ Mit Zeigefinger und Daumen fuhr er vor seinem Mund von links nach rechts um die Versiegelung seiner Lippen in einer übertriebenen Geste anzudeuten, dann schlenderte er pfeifend Richtung Lager davon.
Lucien wartete noch eine Sekunde bis Gilbert hinter einem der Bäume verschwunden war, dann rannte er so schnell er konnte.


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Außer Atem kam er am kleinen Fluss an. Das Wasser floss gemächlich über die flachen Steine und säuselte leise plätschernd vor sich hin. Er holte tief Luft und sah sich um. Endlich erkannte er die schmale, in einen weiten, grünen Mantel gehüllte Gestalt in der Nähe der steinernen Brücke und erneut begann er zu rennen bis er schließlich vor ihr stand.


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Betroffen und etwas schuldbewusst zögerte er kurz vor dem Mädchen, doch als sie ihren Blick hob und ihn anlächelte riss er sie an sich und umarmte sie fest.
Ein leiser Schmerzensschrei ließ ihn inne halten. Er schob sie von sich, zog den Mantel von ihren Schultern und bemerkte erst in diesem Moment die Blutergüsse und Prellungen, die überall auf ihrer Haut, wo sie nicht von Kleidern verdeckt war, wie leuchtende Male prangten. Nur das Gesicht hatte man ausgelassen.
Er fuhr mit seinen Fingern ihren Körper unter dem einfachen Kleid nach. Mindestens eine Rippe war gebrochen und der linke Arm musste ausgekugelt gewesen sein.
Entsetzt sah er sie an. „Verdammt, Florine? Was ist passiert?“

Er sah die Art wie sie die Lippen aufeinander presste. Wütend, traurig, verzweifelt und voller unterdrücktem Zorn. Vorsichtig zog er sie an sich, fuhr ihr mit den Fingern durch die roten Locken, atmete ihren Duft ein und drückte behutsam einen Kuss auf ihre Stirn.

Ihre Stimme war nur ein Flüstern an seinem Ohr und Lucien vernahm einen Hauch von Angst darin. „Lucien. Ich bin schwanger... Eine der Mägde hat Verdacht geschöpft und meinem Vater von ihrer Vermutung berichtet. Als der Arzt die Worte der Magd bestätigen konnte und ich nicht bereit war den Namen des Vaters zu nennen hat er mich grün und blau geschlagen. Er hat gehofft, wenn er nur fest genug zuschlagen würde, könne er das Kind töten.“ Lucien hörte an ihrer Stimme, dass es ihr schwer fiel die Tränen zurück zu halten. Aber Florine war zu tapfer und stolz um sich diese Schwäche einzugestehen. In ihrem kurzen Auflachen lag unterdrückte Wut. „Das Kind ist ein Kämpfer. Schläge und brutale Gewalt reichen nicht aus um es zu töten.“ Wieder zögerte sie einen Augenblick. „Der Arzt meinte er kenne eine Engelmacherin, aber meinem Vater war das hohe Risiko, dass ich selbst dabei sterben würde zu groß. Er wird mich wahrscheinlich einem seiner niederen Gefolgsmänner, die ihm noch einen Gefallen schulden, zur Frau geben. Oder er steckt mich in ein Kloster…“
Lucien vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. „Es tut mir so leid, Florine. Ich wollte nie, dass du so etwas erdulden musst.“
Er spürte wie sie sacht den Kopf schüttelte.

Seine Stimme war ebenso leise wie die ihre. „Florine. Ich habe dir nichts zu bieten. Ich besitze nichts. Aber ich würde alles für dich tun. Ich kämpfe und stehle für dich, ich töte, wenn es sein muss, lüge selbst dem Heiligen Vater ins Gesicht… ich würde für dich sterben.“
Sie lachte kaum hörbar. „Lass uns weggehen, Lucien. Ich brauche keine edlen Paläste, kein seidenes Bettzeug, keine delikaten Speisen. Nur dich…“
Lucien kam sich selbst so unwirklich vor als er ihr Kinn in die Hand nahm, ihr Gesicht hob und sie auf die Lippen küsste. „Es wird hart werden. Weißt du, wie unerträglich Hunger und eisige Kälte sein können…?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das weiß ich nicht. Aber mit dir erscheint es mir überwindbar… Ich habe Geld von meiner Mutter. Keine Reichtümer in den Augen meines edlen Vaters aber genug um irgendwo neu anfangen zu können. Genug damit es uns gut gehen würde.“
Wieder drückte er sie an sich.


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„Florine? Ich werde mir was einfallen lassen. In einem Monat zum nächsten Neumond wenn die Nacht anbricht werde ich bei dir sein. Das versprech ich dir. Ich hole dich ab und dann fliehen wir. Irgendwohin… Wart auf mich.“

Ihr langer Kuss war Antwort genug. Sie zog ihn zu sich hinunter ins weiche Gras, entkleidete ihn und fuhr mit ihren weichen Fingern über seinen muskulösen Körper. Lucien betrachtete beklemmt jeden der blauen Flecken und die verkrusteten Wunden auf ihrer nackten Haut bevor er die Augen schloss und sie sich behutsam im Licht der untergehenden Sonne liebten.

Er sah ihr nach als sie auf ihr Pferd stieg und davon ritt. Ein letzter Blick über ihre Schulter, das wehende Haar wie feuerrotes Herbstlaub im Wind, ihre Lippen, die unhörbar die Worte formten, die sie nicht sagen musste, weil er wusste, dass sie, so unvorstellbar es ihm auch schien, wahr waren.


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„Bis zum nächsten Neumond. Versprochen“, flüsterte er leise bevor er sich umwandte und gen Lager schritt.

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