Kapitel IX Wald um Nimes; Zwei Wochen späterLucien griff nach einem weiteren Holzschaft und fügte mit geübter Hand die Federn ins Ende ein bevor er sie mit einem scharfen Messer kürzte. Dann legte er der Pfeil zurück zu den anderen.
Er bemerkte, dass eine Gestalt ihm gegenüber Platz genommen hatte und er sah auf.
Merten musterte ihn mit ruhigem Blick. Der alte Wundheiler war in die morgendliche Kälte in dicke Kleidung gehüllt und sein halblanges Haar hing im strähnig ins Gesicht. Obwohl das Haupthaar noch immer dunkel war leuchtete der Bart des Alten bereits grau.
Die Stimme des alten Mannes war ruhig und ausgesprochen tief. „Schöner Morgen, nicht wahr?“
Lucien zuckte mit den Schultern und sah zu den Baumwipfeln zwischen denen die Sonne im Nebel aufging und zu dem Spiel von Licht und Schatten auf den Blättern und Waldboden. Er hatte bereits seit vielen Stunden nicht mehr schlafen können und wenigstens seine Hände sinnvoll beschäftigen wollen wenn sich seine Gedanken schon all die Zeit sinnlos im Kreis drehten.
Er griff schweigend zum nächsten Pfeil. Der Alte sah ihn wieder lange an.
„Lucien? Ich kenne dich jetzt schon eine halbe Ewigkeit und so schweigsam warst du noch nie. Ich bin zwar eigentlich kein sentimentaler Narr, aber glaub mir, manchmal werden die Sorgen tatsächlich kleiner, wenn man einem guten Freund davon berichtet…“
Lucien biss die Lippen aufeinander, warf den Pfeil nachdem er ihn fertig befiedert hatte zurück. Nach wie vor war kein Ton zu vernehmen, nur das langsame Atmen der beiden Männer. Schließlich tat es ihm Merten gleich, nahm ebenfalle eines der Geschosse und begann mit der Arbeit. Obwohl er aufgrund der Jahre leicht zitterte war er schneller.
Lucien schluckte. Die Worte lagen ihm auf der Zunge, aber es fiel ihm schwer. „Merten, ich…“ Der junge Mann suchte nach den richtigen Sätzen, die ihm ungemein schwer fielen und mied den Blick des Anderen. „… ich hab ein Mädchen, in Nîmes.“ Tief atmete er die kühle Waldluft ein. „Sie ist schwanger. Ihr Vater wird sie in ein Kloster stecken… oder verheiraten… Was weiß ich…“
Er hatte versucht die Worte so klingen zu lassen, als wäre es eine unwichtige Kleinigkeit, aber es schien ihm nicht zu gelingen.
Wieder fuhren die Finger des Alten über das Pfeilende. Er prüfte die metallene Spitze und befand sie schließlich mit einem Nicken als scharf genug. Der Blick der eindringenden grauen Augen wanderte zu Lucien. Er klang fast ein wenig amüsiert. „Und? Liebst du sie?“
Lucien nickte und schwieg.
„Liebt sie dich?“
Ein winziges Lächeln huschte über das Gesicht des Jungen bevor er leise weiter sprach. „Ich weiß zwar nicht genau warum, aber ja, das tut sie.“
„Dann schnapp dir dein Mädchen, bevor es jemand anders tut und hau mit ihr ab. Die Welt ist groß und weit…“
Lucien seufzte. „Ist sie das? Alles, was ich bisher gesehen habe war…niederschmetternd“ Wieder schwieg er mit düsterem Blick und der Alte tat es ihm gleich.
Mehrere Minuten vergingen. Schließlich lächelte Merten leicht. „Du solltest nach Brügge gehen. Die Stadt liegt in Flandern, weit im Norden von hier.“
Lucien sah auf. Der Name sagte ihm nichts. „Brügge? Wie ist es dort?“
Der Alte lachte leise, dann fing er an zu zitieren:
„Bei Tag ist alles hier Gewöhnlichkeit.
Die Straße klingt vom Holzschuhtritt der Bauern,
Vom Lärm der Weiber, die am Markte kauern.
Allein im milden Glanz der Abendzeit
Erwacht der alten Häuser leises Trauern.
Die Glocke klingt ... Und in den dunkeln Mauern
Erstehn die Träum der Ewigkeit.
Hier sind die Häuser all Paläste,
Der Abend hüllt sie in rosigen Flor,
Die Straßen sind leer wie nach einem Feste,
Wenn sich der Schwarm frohlärmender Gäste
Schon fern in die schweigende Nacht verlor.
Die prunkenden Tore mit blanken Klinken
Sehn aus wie zum Empfang bereit,
Blank und blitzend die Kirchturmzinken,
Die in den Nebel träumend versinken
Wie in das Meer ihrer Ewigkeit.
Und in den Nischen an dunkelnden Wänden,
Da lehnen Engel aus prächtigem Stein,
Und reglos, in heimlichen Wortespenden
Sprechen sie leise die alten Legenden
In die tiefen Wasser der Kanäle hinein ...“
Schließlich lachte er laut. „Verzeih mir mein sentimentales Geschwätz, Lucien. Brügge ist meine Heimatstadt. Ich bin als junger Mann voller Träume und mit leeren Taschen von dort weggegangen… Jetzt sind meine Träume verflogen und meine Taschen nicht viel voller. Brügge ist eine wohlhabende Stadt. Den Menschen dort geht es gut. Das Wasser der Kanäle spült den täglichen Dreck weg, die Straßen sind ein wenig sauberer als bei uns und einen Kerl, wie dich, der anpacken kann und zwei gesunde Hände hat, können sie dort gut gebrauchen. Als Räuber würdest du wahrscheinlich ein Vermögen machen, aber mit deinem Mädchen an der Seite könntest du es auch bei der Stadtwache versuchen. Du bist geschickt mit dem Schwert und weißt worauf es ankommt.“
Lucien hatte ihm aufmerksam zugehört. „Bis Flandern ist es ein weiter, weiter Weg…“
Merten zuckte mit den Schultern und erhob sich. So ist es, junger Wolf. So ist es.“ Dann schlenderte er Richtung Lager davon.
Lucien sah ihm kopfschüttelnd hinterher.
Wenige Minute später hörte er erneut Schritte, die sich ihm näherten. Wieder nahm Merten neben ihm auf dem Baumstamm Platz. Dann landete etwas vor seinen Füßen und Lucien sah auf. Er griff nach dem achtlos hingeworfenen Lederbeutel und blickte den Alten fragend an.
Dieser nickte nur. „Das ist für dich. Ich bin alt und kann es eh nicht mehr gebrauchen. Schnapp dir dein Mädel, brenn mit ihr durch und mach das Beste aus deinem Leben. Auf jeden Fall was Besseres als ich.“ Er grinste und entblößte seine Zähne bei denen bereits einige fehlten.“
Lucien griff hinein und spürte das schwere silberne Metall der Münzen zwischen seinen Fingern. „Merten? Das kann ich nicht annehmen.“
„Aber klar kannst du!“ Wieder nickte er bestimmt. „Geh nach Nîmes, besorg euch, was ihr für die Reise benötigt: Decken, Nahrung, Kleidung. Ihr werdet es alles brauchen.“ Er erhob sich und klopfte Lucien auf die Schulter. „Das Leben ist zu gut um es zu vergeuden."