Werde fort und fort, der, der du bist

„Nicht doch, nicht doch!“ Trajan schüttelte den Kopf und schmunzelte. „Wenn es euch beliebt, so leistet mir doch noch ein wenig Gesellschaft.“ Er deutete zu der Zimmertür, die ins nächste Zimmer, eine Bibliothek, führte. „Ich habe die Prophezeiung von Achmet gefunden. Allerdings ist die Sache nicht ganz einfach. Ich habe ihn damals gebeten eine Niederschrift anzufertigen und er erfüllte mir diesen Wunsch. Allerdings hat er die Sätze verschlüsselt und sie in unterschiedlichen Sprachen verfasst. Ich benötigte damals, falls ich mich noch recht entsinne, eine Woche um sie zu enträtseln und ich hatte einiges an Literatur dazu zu Hilfe.“ Trajan reichte Leif einen vergilbten Papyrus auf dem in scharf geschnittenen, eckigen Buchstaben die Handschrift seines Erzeugers prangte. Im ersten Moment war nichts eindeutig Offensichtliches mit den Buchstaben anzufangen.
„Kommt mit, Leif…“ Trajan besah sich den dunkelblonden Nordmann, der mit ihm gereist war. „Es gibt für die Tremere zwei Möglichkeiten den Willen von einem von uns zu brechen: Hunger, der das Tier hervortreten lässt und Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung. Ihr müsst versuchen dagegen anzukämpfen. Und das sollten wir trainieren. Diese Übungen sind hart und kosten all eure Konzentration und Stärke. Wogegen wollt ihr in dieser Nacht ankämpfen: Hunger oder Erschöpfung?“
Sein Blick war ernst geworden und Besorgnis lag darin. Würde er dem Nordmann zu viel zumuten?

Leif zitterte beinahe, als Trajan ihm den Papyrus aushändigte. Er ließ nur einen flüchtigen Blick über die Buchstaben gleiten und legte das Papier dann vorsichtig und zusammen mit dem Gürtel den er noch immer in der Hand hielt auf einen Tisch. Mit diesen Dingen konnte er sich später noch befassen und auch wenn ihn die Neugier plagte, war er nicht weniger interessiert darüber herauszufinden was Trajan noch mit ihm vor hatte. Er nickte und ging mit Trajan mit. Über die Frage, welche ihm der andere Mann gestellt hatte, musste er eine Weile nachdenken. Hunger oder Erschöpfung? Egal welche Entscheidung er traf - Leif rechnete nicht damit, dass die damit verbundene Erfahrung sehr angenehm werden würde. Schließlich räusperte er sich um dann zu sprechen. "Erschöpfung. Ich wähle die Erschöpfung." Der Nordmann ging mit Trajan mit und schluckte. Er war gespannt darauf, was ihn erwarten würde auch wenn er spürte wie sich eiserne Entschlossenheit in ihm aufbaute. Er würde die Prüfungen durchstehen, denn das Aufgeben war für ihn - zum guten wie zum schlechten - keine Alternative.

Trajan ging in einen kleineren Raum, nahm auf einer der Sitzliegen Platz und wartete auf Leif. Seine Stimme nahm einen ruhigen Ton an als er weiter sprach. „Die meisten Kainiten sind in der Lage hartnäckigen mentalen Widerstand zu leisten, wenn es die Situation erfordert. Ihr, Leif, habt in all den Jahren eurer Existenz zu kämpfen gelernt, wie ich bereits fest stellen durfte, und ihr könnt mehr als stolz darauf sein.“ Er fixierte ihn mit seinen hellen Augen. „Doch all dies ändert sich in dem Moment in dem man hoffnungslos in Ketten liegt, man der Vernichtung seines besten Freundes beiwohnen musste, man gerade beginnt die Namen seiner Verbündeten zu verraten oder man der Tatsache ins Auge sehen muss, dass man verloren ist…“ Er schwieg lange und schluckte schwer. Leif erkannte wie er die Finger, die er im Schoß hielt, verkrampfte und erkannte den dünnen Schweißfilm auf seiner Stirn. Trajan fuhr sich kurz über die Augen. „Das Schicksal von so manchen, die unser Blut teilen, verlief in solchen Bahnen und ich hoffe, dass die Götter ihnen gnädig waren…“
Wieder wanderte sein Blick zu Leif und zum ersten Mal war er wie selbstverständlich zum ‚Du‘ übergewechselt. „Viel von unseren Kräften erfordert die mentale Stärke. Wenn du kannst, versuche in meinem Geist zu lesen, ihm Geheimnisse zu rauben und lerne, wie deine Feinde vorgehen. Es wird dich erschöpfen und alles von dir fordern.“ Er schwieg eine entscheidende Sekunde. „Danach werde ich erneut versuchen in deinen Gedanken zu suchen und dann wirst du verstehen.“ Er nickte. „Du wirst mir keine Geheimnisse über unseren Clan entlocken können, aber auch ich habe vor langer Zeit Dinge getan auf die ich nicht stolz bin, Geschehnisse erlebt, die ich vergessen will. Diese Erlebnisse sind der Schild, den ich aufzubauen vermag, um von den eigentlich wichtigen Erinnerungen abzulenken. Hast du Fragen?“

Leif nahm gegenüber von Trajan Platz und lauschte seinen Lektionen. Wenig von den gesagten Dingen überraschten ihn wirklich, aber er hatte über alles Gehörte noch nie in dieser Gesamtheit nachgedacht. Ihm wurde hier und jetzt auch zum ersten Mal bewusst, dass sein Lehrer wahrscheinlich aus Erfahrung sprach. Ob durch die Hände der Tremere oder eines anderen Feindes, Trajan schien zu wissen was Folter bedeutete. Dann begann Leif in den Geist des anderen Mannes zu erforschen. Die mentale Anstrengung bekam er sofort zu spüren, aber trotz allem wurde er immer wieder ein Stückweit von sich selber bei der Suche abgelenkt. Welche seiner Geheimnisse würde Trajan aufdecken? Er hat genügend Dinge getan, grausame Dinge, die weit über die Grenzen gegangen waren die er sich einmal selbst gesetzt hatte. Bilder formten sich in seinem Kopf, die aber mehr Schatten und Erinnerungen waren. Da war Brügge und seine Kainiten, das Feuer in dem er sich tot gestellt hatte, Gretlins lebloser Körper und ihr verletztes Gesicht als er sie gegen Sebastian benutzt hatte, Dr. Tremere selbst, Andomar dessen starren Körper er diablerierte, der Angriff auf Brüssel, der Verrat an Katharina und ihrer Familie, die Kinder von Vidarr, John der seinen eigenen Enkel tötete und so viel mehr. Leif biss die Zähne zusammen und versuchte all die verfluchten Bilder zurückzudrängen. Er wusste all das war ein Teil von ihm, hatte ihn zu dem gemacht was er war, aber er fürchtete trotz allem Trajans Urteil. Er war weit gefallen von dem, was die Salubri einmal ausgemacht hatte. Während er weiter versuchte in den Geist des anderen Mannes einzudringen, kam ihm plötzlich ein Gedanke. Die Befürchtung war wie eine Essenz, die aus all den dunklen Erinnerungen die er gerade verspüre destilliert wurde. 'Was war wenn Achmet am Ende recht hatte? Wenn er all diese Dinge gesehen hatte und er wirklich eine Gefahr darstellte?'

Leif konzentrierte sich auf das Gesicht Trajans, die dunklen, schwarzen Pupillen des Alten. Er versuchte in seinen Geist einzudringen und dort nach den Dingen zu suchen, die Trajan versteckte: Geheimnisse der Salubri, Taten, die Vergeltung forderten, alles, was man besser für immer für sich behielt, aber egal, wie hart er sich bemühte, nichts davon fand einen Weg zu ihm. Immer und immer waren seine eigenen Befürchtungen und Erinnerungen im Weg, die ihn blockierten gegen den eisernen Willen des Salubri anzukämpfen. Er erkannte flüchtige Erinnerungen.

Es machte keinen Sinn und irgendwann gab Leif auf. Was auch immer er der eisernen Wand die Trajans Geist bildete entgegenwarf, er konnte sie nicht einreißen oder auch nur ankratzen. Auch das wenige was er sehen konnte, Bilder die ohne Zweifel in die Zeit des römischen Imperiums gehörten gaben wenig über seinen Lehrer preis. Zumindest nichts was nicht auch ohne den Einsatz von übersinnlichen Disziplinen herauszufinden wäre. Leif lehnte sich ein Stück vor und stützte sich mit den Handflächen auf den Oberschenkeln ab. Auspex auf dieser Stufe und mit einer solchen Frequenz forderte definitiv seinen Tribut.

Der Salubri fand mühelos in Leifs erschöpften Geist, entdeckte die eben noch gedachten Gedanken und andere Bilder.


Ein Mann, der mit entsetztem Gesicht in Flammen aufging


Eine Frau, die es sich niemals nehmen lassen würde, an seiner Seite zu kämpfen


Ein König, dem er Treue geschworen hatte


Die Ruinen einer Burg, die in Flammen stand

Es erschienen so viele Bilder vor Leifs innerem Auge, dass es ihm schwer fiel den Überblick zu behalten. Er merkte, dass alles nur oberflächlich hervorgezogen wurde ohne länger betrachtet zu werden. Das Gefühl war grässlich. Obwohl er die Gewissheit hatte, dass von diesem alten Salubri keine Gefahr ausging, fühlte er sich ausgeliefert. Es war, als wäre sein ganzes Leben wie eine Landkarte vor ihm ausgebreitet.
Leif merkte, dass sich der Andere wieder aus seinem Geist zurück zog.



Er nickte Leif langsam. „Diese Erfahrung ist eine der grässlichsten, die man machen kann. Verzeih, doch es war nötig.“ Er wandte den Blick ab. „Bei einem Verhör werden den Bildern besondere Aufmerksamkeit geschenkt, die man um jeden Preis verbergen möchte. Und einem geübten Meister wird es auch beim willensstärksten Kainiten irgendwann gelingen, diese an den Tag zu bringen. Einige der Erinnerungen, die ich gesehen habe, willst du für dich behalten, doch diese sind es, die du, solltest du je einem Verhör ausgesetzt sein, am stärksten verbergen muss. Konzentriere dich auf nichts, außer auf sie und wie du sie geheim hältst. Es wird dir nicht gelingen, aber du wirst deine Feinde damit täuschen.“
Er sah wieder zu Leif und man konnte ihm ansehen, dass er wusste, dass er Grenzen überschritten hatte, die gewöhnliche Kainiten aus Respekt nie zu übertreten wagten. „Verzeih mir, Leif, aber es ist anders nicht möglich zu lernen.“

Nachdem sich die andere Präsenz endlich aus seinem Geist zurückgezogen hatte, atmete Leif vor Erleichterung tief ein. Er war erschöpft und schüttelte aber den Kopf. "Nein Trajan alles ist gut. Es gibt nichts wofür ihr euch entschuldigen müsst, denn nur so kann ich lernen was ich lernen muss." Der Salubri schloss die Augen und versuchte sich zu sammeln. "Ich verstehe was ihr mir zeigen wolltet. Es bringt nichts dem Sturm trotzen zu wollen, denn irgendwann brechen sie immer durch. Die einzige Hoffnung die besteht ist es sie auf eine falsche Fährte zu locken." Leif lächelte schwach. "Wollen wir weitermachen Trajan? Gibt es noch etwas bezüglich der Erschöpfung, dass ihr mich lehren könnt? Oder sollen wir mit dem Hunger weitermachen?"

Trajan lachte fröhlich auf. „Ihr seid nicht zu bremsen, mein Freund! Es gibt viel, was es zu lernen gibt in unserer untoten Existenz, aber wir verinnerlichen es am ehestens durch die Zeit.“ Er lächelte sacht als er sich erhob und zu einer Truhe ging. Er suchte darin und zog einen kleinen silbernen Teller und ein winziges Messer hervor mit denen er zurückkam. Er stellte diese auf einen kleinen Schemel zwischen sich und Leif. Dann griff er in seine Tasche und zog langsam die Phiole hervor.
Behutsam entkorkte er das Fläschchen und schabte mit dem scharfen Messer ein winziges Blättchen davon ab, das langsam wie eine rote Schneeflocke auf den Teller segelte. Sofort lag ein seltsamer undefinierbarer Geruch in der Luft. Es roch trocken und wild. Wie ein sommerlicher Wald am Mittelmeer oder eine Quelle an einem heißen Tag. Leif meinte einen Hauch von Thymian, Minze, Rosmarin und Pienienholz zu riechen. Oder war es Wacholder? Lorbeer? Mit einem Plopp korkte er die Phiole wieder zu und nickte ermunternd in Leifs Richtung.
„Nehmt es zu euch!“

Leif verspürte ein leichtes, unangenehmes Gefühl als er den Vitaesplitter ansah. Normalerweise war es nie eine gute Idee unbekanntes, offensichtlich mit übernatürlichen Eigenschaften versehenes Blut zu konsumieren. Trotzdem nahm er den Teller, schloss die Augen und leckte das rot schillernde Bruchstück mit seiner Zunge auf. Er vertraute Trajan und wenn dies der nächste Teil seiner Lektion war, dann hatte er sich offensichtlich etwas dabei gedacht.