Do 14. Apr 2016, 20:52
Lucien ging weiter bis zum nächsten Felsvorsprung. Er sah sich genau um, musterte mit seinen scharfen glühenden Augen die Umgebung und sah schließlich, wonach er Ausschau hielt. In einigen Meilen Entfernung wuchsen hohe eng stehende Felswände wie Mauern dem Nachthimmel entgegen und Mondlicht waberte durch die nebeligen Wolken, die wie Geister zwischen den Klippen dahin wehten. Das musste es sein, wovon der Kainit geredet hatte. Die lange Schlucht.
Es schmeckte ihm nicht den Wolf zurückzulassen aber er versuchte sich die Entfernung zum Felsen, als auch die Erscheinung der näheren Umgebung gut einzuprägen damit er das kleine Fellknäuel später würde wiederfinden können. Ob er zurückkam, war überhaupt fraglich. Jemand wie Mitru, der obendrein noch ein wildes Kainitenrudel an seiner Seite führte, war ganz sicher einige Nummern zu groß für ihn. Trotzdem stellte sich nicht die Frage ob er das hier alles wollte oder nicht; er musste. Schließlich ging es um Jean. Er schlich sich langsam durchs Dickicht und nahm Kurs auf die lange Schlucht. Je näher er dieser kam, desto vorsichtiger und aufmerksamer wurde er.
Das Dickicht war fast undurchdringlich, aber schließlich fand Lucien einen winzigen Pfad. Erst wirkte er wie der von Tieren, aber er bemerkte recht schnell die abgetretenen Zweige und Abzweigungen, die eher auf menschliche Wesen schließen ließen. Er folgte ihm und mühte sich redlich ab möglichst leise zu sein, was ihm aber aufgrund der völlig fremden Umgebung und der Dunkelheit nur schwer gelang. Ab und an hatte er das Gefühl Schritte oder Stimmen in weiter, weiter Ferne zu vernehmen, aber er könnte sich genauso gut auch irren. War da irgendwo ein kaum hörbares Lachen? Oder war das nur der Wind, der dessen Echo an den Felswänden widerhallte?
Lucien verharrte plötzlich am Ende eines Sees. Das Wasser in der Schlucht hatte sich gestaut und bildete einen ca 100 Meter langen und wohl 50 Meter breiten See, dessen Wasser dunkel wie schwarze Tinte vor ihm lag. Nicht einmal die Sterne schienen sich darin zu spiegeln. Ein Aufplatschen hatte ihn alarmiert. Dieses Geräusch gehörte nicht hier in diese Wildnis…
Er sah sich um. Nein dieses Dickicht war sogar noch gefährlicher und undurchsichtiger als sein Wald um Brügge. Hier draußen verirrte sich wirklich kaum ein Mensch. Er ging hinter einer Gruppe aus Büschen in Deckung und funkelte argwöhnisch hinüber zu dem Geräusch das ganz definitiv nicht hierher gehörte.
Lucien erkannte irgendetwas am anderen Ende des Sees. Irgendetwas musste ins Wasser gefallen sein? Ein Stein? Ein abgerutschter morscher Baumstamm?
Er robbte beinahe auf allen vieren durch die Hecken, immer näher auf das Geräusch zu. Sein Ziel war es ja nach wie vor, ja nicht entdeckt zu werden.
Seine Position ermöglichte ihm ein besseres Bild auf das spiegelglatte Wasser. Und dann sah er die Bewegung. Jemand bewegte sich mit geschmeidigen Schwimmzügen durch das kalte Nass.
Lucien war sofort bewusst, dass es sich um einen Menschen handeln musste, aber näheres konnte er in der Dunkelheit nicht erkennen. Dafür war er noch immer zu weit entfernt. Er konnte seine kainitischen Fähigkeiten einsetzen und er wusste, er würde sofort alles erkennen, aber genauso war ihm klar, dass er im selben Moment enttarnt wäre.
Mensch oder Kainit, das war die eigentliche Frage. Humanoid, schön und gut aber das allein half ihm noch nicht weiter. Zu gern hätte er seine die Finsternis durchbrechenden Augen eingesetzt, aber das hätte ihn nur verraten. Wer immer hier schwamm, hatte ganz offensichtlich keine Angst in einen völlig unbekannten Tümpel zu springen, mitten in der Nacht und noch dazu ganz allein. Es gab nur eine Möglichkeit mehr herauszufinden ohne sich zu offenbaren – er musste näher ran. Geduckt kroch er durch das Miasma aus Wurzeln, Pflanzen und Büschen näher an den Rand des Sees; umrundet diesen dabei allmählich. Vielleicht hatte er ja sogar Glück und es handelte sich um Jean selbst? Sogar das mochte möglich sein obwohl er es bezweifelte.
Lucien hielt an der Böschung inne und wartete, dass das blasse Mondlicht sich in den Tiefen des Wassers spiegelte.
Dann erkannte er die Gestalt plötzlich und ihm war bewusst, hätte er noch ein schlagendes Herz, es hätte für einen Moment ausgesetzt. Sie zog mit gleichmäßigen Zügen durch das rabenschwarze Wasser, hielt einen Augenblick inne, tauchte unter und wohl eine Minute später an der gleichen Stelle wieder auf. Sie drehte sich während des Schwimmens auf den Rücken und genoss sichtlich die Mischung aus Bewegung, dem eiskalten Element, Natur und Sein. Sie setzte dieses Spiel wohl weitere zehn Minuten so fort, dann schwamm sie zurück zu den Steinen von denen sie gekommen war.
Klatschnass entstieg sie dem See. Lucien erkannte, dass sie nackt war und das Wasser an ihrer porzellanweißen Haut abperlte. Sie strich sich die Haare zusammen und wrang sie mit einer fließenden Bewegung aus. Sie schien ihn nicht bemerkt zu haben.
Er grinste fast schon idiotisch in sich hinein. Nun mochte man vielleicht annehmen, dass dies aufgrund des Anblicks seiner nackten Erzeugerin der Fall war; nichts könnte weiter davon entfernt sein. Es war nicht ihr Anblick, der ihn so blöde grinsen ließ, sondern schlichtweg die Tatsache, dass sie genau in dieser Nacht, in diesem Wald, an dieser Stelle baden musste. Ein vollkommen Wahnsinniger hätte unvermittelt angegriffen, aber wer Vanya kannte, wusste, dass sie selbst mit nassen Haaren, splitternackt und unbewaffnet eine ernstzunehmende Gegnerin war. Und die, welche jetzt nur wegen nackten Brüsten gegrinst hätten, wären ohnehin im nächsten Augenblick tot gewesen. Was also tun? Fakt war natürlich, dass ihre Begegnung kein Zufall war. Seine Erzeugerin war nicht einfach nur so in der Gegend. Kommandierte sie die verbliebenen Wilden? War Mitru ihr Verbündeter und agierte gar auf ihren Befehl hin? Vielleicht sogar ihr Kind? Mein Gott, das würde sogar noch Sinn ergeben. Vanya, die Jean entführen ließ um ihm damit wieder irgendetwas zu beweisen oder ihm drohen zu können. Die Chancen jemanden wie Vanya auf dem falschen Fuß zu erwischen waren gering, umso mehr musste er jeden guten Moment ausnutzen. Er wartete bis sie ihm ahnungslos den Rücken zugekehrt hatte, um dann einen schnellen Satz nach vorne zu machen und sie festzuhalten; die Klinge lag bereits in seiner Hand, positioniert sie an ihre Kehle zu pressen und ohne Problem zuzudrücken. Mit einer blitzschnellen Bewegung jedoch fuhr sie herum und nutze seine Wucht um ihm die Klinge zu entwenden. Mit einem platschenden Geräusch landete sie in den Tiefen des Sees.
Sie drehte sich zu ihm um und ein amüsiertes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Sie fuhr ihm mit einem ihrer kalten noch feuchten Finger über seine ausgeprägten Halsmuskeln zu seinem Nacken und trat dann wieder zwei Meter nach hinten aus seiner Reichweite. Ihre Stimme war wie immer wenn sie es wollte ein verheißungsvolles Flüstern. „Schön dich wieder zu sehen, Schattenwolf.“
Er war perplex, hatte den Schlag nicht kommen sehen da er davon ausgegangen war, sie hätte ihn nicht bemerkt. Oh, wie dumm er doch war, nicht auf seine eigenen Warnungen zu hören. Vanya hatte die Augen und Ohren einer Katze - ein dicker, in Eisen gepackter Krieger wie er und mochte er noch keinen so besonders starken Geruch ausströmen, würde von ihr sofort entdeckt werden. Kein Wunder das ihr niemals jemand entkommen war, nun ja... fast niemand. Gelegentlich entkam auch der Katze jemand. Es gab ja durchaus noch scheußlichere Monster. Mit einem schiefen Grinsen, drehte auch er sich um und watete ein paar Schritte ins Wasser, genau an dies Stelle wo sein Schwert versunken war. "Ich muss sagen, das habe ich schon einmal besser gekonnt. Für gewöhnlich schaffe ich bei dir immerhin 10 Meter, früher sogar noch mehr. Wahrscheinlich die fehlende Übung..." Er griff in das schwarze Wasser und aktivierte auch seinen Augen um die Klinge zu finden. Dieses Schwert war aus der ehemaligen Mondklinge der Wolflinge gefertigt und mit seinem eigenen Blut geweiht und beschichtete, damit verwoben worden. Auf der ganzen Welt gab es nichts Vergleichbares. Er würde es ganz sicher nicht zurücklassen. Als er nach dem Schwert suchte, blickte er kurz über die Schulter. "War es deine Idee? Die Entführung von Jean? Es würde dir ähnlich sehen. Komm schon, du weißt das wir immer ehrlich zueinander waren. Schonungslos ehrlich."
Er glaubte die Klinge im Wasser funkeln zu sehen und griff danach.
„Waren wir das?“ Sie wrang sich erneut das nasse Haar aus und ließ es mit einer raschen Kopfbewegung nach hinten gleiten. Wie ein seidenes schwarzes Tuch umspielte es ihre Brüste, die geschmeidigen Schultern und den ebenmäßigen Rücken. Mit katzenhafter Eleganz trat sie näher heran und musterte ihn während er das Schwert herauf zog. „Seit wann kämpfst du mit kaltem Eisen?“ Ihre langen schmalen doch messerscharfen Klauen waren im selben Moment ausgefahren und sie fuhr sich damit fast zärtlich an der Halsbeuge entlang. Lucien sah die dünnen roten Striche, die im selben Augenblick erschienen. Vanya leckte sich genussvoll die rote Vitae von den Klauen und ließ die Wunden augenblicklich wieder heilen. Genausoschnell waren die scharfen körpereigenen Waffen wieder verschwunden und sie berührte mit ihren langen Finger ein letztes Mal die blutroten Lippen.
Er betrachtete den fein gearbeiteten Stahl und nickte nur sinnierend. Feinster Stahl aus Norwegen, verarbeitet nach Damaszener Art, darin gebunden sein Blut und der Rest Mondstahl der Wolflinge. Eine Verzauberung von einer Priesterin seines Weges. Nein, das war bei weitem kein kaltes Eisen mehr. Mit einer Hand wog er nachdenklich das Gewicht in seiner Hand ohne sie nur auch eines Blickes zu würdigen, dann ließ er die Klinge in der Scheide verschwinden und wandte sich ihr zu. "Es ist keine gewöhnliche Klinge so viel steht wohl fest. Oder glaubst du ich begnüge mich mit dem Gewöhnlichen?" Seine Lippen umspielte ein schiefes, herausforderndes Lächeln, während seine Augen die Konturen ihrer üppigen Brüste verfolgten, die von ihrem pechschwarzen Haar umrahmt wurden. Ebenmäßige, fahlweiße Haut rundete ihren verlockenden Anblick ab. Sie war absolut hinreißend und hinreißend tödlich und so würde sie bis zum bitteren Ende aussehen. Was für eine Frau, was für ein Monster. "Du hast mir gesagt, wenn ich das Maul halten soll und zugucken soll und ich hab dir später gesagt wenn ich etwas gänzlich beschissen finde. Ja wir waren immer recht ehrlich miteinander. Also... was ist diesmal der große Plan hinter deiner Entführung? Geht es darum mich hier in die Wildnis zu locken? Anschluss an dein Rudel oder der Tod? Wird es darauf hinauslaufen?" Der Hauptmann verschränkte die Arme und sah sie fragend an.
Vanya kam näher und schüttelte amüsiert den Kopf. Gespielt empört sah sie ihn aus ihren großen dunklen Augen an. „Da sehen wir uns nach so vielen Jahren endlich ohne die Wirren der menschlichen Scharmützel dort wo wir hingehören wieder und dann solche Reden?“
Sie fuhr mit den zarten Fingerspitzen über die Muskeln seines Oberarmes. „Du bist noch genauso geradlinig wie früher, Schattenwolf. Das habe ich immer an dir bewundert… Und noch so manch anderes, das kein anderer Mann mir bieten konnte…“ Sie lächelte verschmitzt bei den alten Erinnerungen, die vor ihrem inneren Auge aufblitzten. „Was hat dazu geführt, dass du so schlecht von mir denkst? Dieser kleine Krieg um die paar flandrischen Hütten und deine Schäfchen? Du musst mir zugestehen, dass ich es zumindest versuchen musste, oder?“ Sie schmiegte sich ein wenig näher an ihn, dann beugte sie sich zu seinem Ohr. Lucien spürte den Hauch ihres weichen Atems als sie flüsterte. „Ehrlichkeit also? Ich habe nichts damit zu tun, dass der Wolf hier ist. Es ist interessant, durchaus… aber nicht mein Werk“