Di 26. Apr 2016, 16:20
Auf dem Weg zum Anwesen der Familie van de Burse wickelte sich Leif tiefer in seinen Mantel und folgte der altbekannten Straße. Wahrscheinlich würde er diesen Weg selbst in Starre finden auch wenn er es vermied hierher zu kommen wenn es irgendwie ging. Er fühlte sich in Alidas Heim immer wie ein Eindringling, wie jemand der gerade so toleriert wurde und bei dem man immer einen Seufzer machte, wenn er wieder gegangen war. Aber das war nicht einmal sein eigentliches Problem, denn immer, wenn er durch die Pforte des alten Hauses trat dann hatte er das Gefühl in einem Gefängnis zu sein und bevorzugte es deshalb alles was die Stadt betraf auf neutralem Grund zu besprechen. Private Besuche waren bestimmt schon seit über einem Jahrzehnt nicht mehr passiert und auch wenn Leif alles was zwischen ihm und Alida schief gegangen war manchmal bedauerte, dann wusste er doch, dass es an der Realität, die sich inzwischen gefügt hatte nicht mehr viel zu rütteln gab. ‘Verschwende deine Zeit nicht damit zurück zu schauen, denn dein Weg führt dich dort nicht lang.’ Das hatte einst ein alter Freund von Leif gesagt und in den meisten Fällen stimmte der Salubri mit dieser Weisheit überein. Schließlich war er an seinem Ziel angekommen. Leif atmete einmal tief durch. Er hoffte er konnte diesen ungewollten Besuch so kurz wie möglich halten. Auf seinem Weg nickte er dem alten Torwächter kurz zu und begab sich dann ins Innere des Anwesens. Als nach seinem Klopfen Hendrik die Tür öffnete war Leif kurz überrascht. Wurde Hendrik etwa mit einem nächtlichen Türdienst bestraft für irgendwas das er getan hatte? Schließlich gab es genug Diener im Haus, die diese Aufgabe übernehmen konnten. Der Salubri schaute den Jungen interessiert an. Am Anfang hatte er ihn eher für ein Monster als alles andere gehalten, aber über die Jahre hatte sein akademisches Interesse am Zustand des Kindes die Oberhand gewonnen und inzwischen würde er ihm am liebsten ein paar Fragen stellen und sein Verhalten studieren um mehr über seine einzigartige physische Kondition herauszufinden. Leif lächelte kurz innerlich. Nicht das irgendjemand ihm das je erlauben würde, aber das spielte auch keine Rolle, denn schließlich war er dafür auch gar nicht hier. Der Nordmann sprach schließlich zum dem Jungen. “Guten Abend Hendrik. Ich habe gehört ein Teil meiner Familie ist hier aufgetaucht. Falls das wahr ist, könntest du mich dann bitte zu ihnen bringen? Es ist recht dringend wie du vielleicht weißt.”
Der Junge bewegte sich keinen Zentimeter. „Ihr seid der Onkel von Karl-Christian, oder? Dann ist die blonde Frau also eine Verwandte von euch.“ Er kaute kurz auf seiner Unterlippe wie es Alida immer wieder tat, wenn sie nachdachte. „Sie ist sehr hübsch, auch wenn sie im Moment nicht gut aussieht.“ Eine rundliche Gestalt erschien am Ende des Hausgangs und eine warme, aber befehlsgewohnte Stimme war klar zu vernehmen. „Hendrik. Steh nicht wie ein Wachhund in der Tür, sondern lass den Herrn endlich rein. Du hast doch gehört, dass er zu Balduin will.“
Leif erkannte die dicke Köchin Berta. „Also los, Hendrik. Mach dich nützlich.“
Der Junge seufzte schicksalsergeben und verdrehte die Augen ohne dass Berta es sehen konnte. Dann hielt er die Tür etwas weiter auf und ließ den nächtlichen Wanderer eintreten.
Leif verzog keine Miene als der Junge antwortete. Er schien offensichtlich ein paar Probleme mit normalen sozialen Interaktionen zu haben. Vielleicht wuchs sich das ja in Zukunft noch aus. Der Salubri bedankte sich kurz bei Hendrik und ging ins Haus. Er adressierte die Köchin: "Habt Dank, Berta. Wo muss ich hin?"
Die Köchin blinzelte dem Jungen zweideutig zu. „Hendrik?“ Der senkte kurz den Blick und sah sie dann wieder an. „Ja, ja…“
Die ältere Frau nickte Leif wohlwollend zu. „Ich wünsche euch noch einen guten und falls möglich geruhsamen Abend, Meister Thorson. Gehabt euch wohl.“ Sie griff nach einem Geschirrtuch und machte sich auf den Weg Richtung Küche.
Der Junge verzog die Lippen zu einem schmalen Strich und sah Leif eindringlich an als würde er hinter der Gestalt des Nordmannes etwas Tieferes suchen. „Onkel Balduin ist im Gästehaus. Ich bring euch hin.“ Er schritt durch den halbdunklen Flur voran durch einen weitere Hausgang und dann durch eine breite Tür hinaus Richtung Garten. Leif erkannte sofort, dass man das Portal erweitert und an der linken Seite des Gartens angebaut hatte. Offensichtlich war ein Seitenflügel hinzugefügt worden, der nun als Gästehaus diente. Der Knabe schritt hinaus in die Dunkelheit des Gartens, blieb dann aber stehen und musterte ihn. „Soll ich eine Fackel holen. Braucht ihr Licht?“
Leif folgte Hendrik zu dem Gästehaus. Alles in Brügge wuchs, deshalb wunderte es den Nordmann auch nicht, dass es hier ebenso geschah. Er nahm die Frage des Jungen kaum wahr, antwortete aber nach einer kurzen Sekunde und nachdem er seine Gedanken wieder geordnet hatte. "Nein ich brauche kein Licht. Hol dir aber ruhig eine Fackel, Hendrik, wenn dir das lieber ist."
Er schüttelte nur den Kopf. „Nein, ich brauch keine Fackel.“ Er ging ein paar Schritte und ließ dann wieder den Blick zu Leif wandern. „So spät in der Nacht kommen meist keine gewöhnlichen Leute hierher. Nur die Freunde von Tante Alida und die brauchen nie Licht.“
"In der Tat." Leif beschloss das ganze direkt anzugehen. "Weißt du auch warum das so ist?"
Hendrik schien einen Moment zu überlegen, wie er antworten sollte. „Weil sie anders sind als andere…“
"Richtig Hendrik." Leif überlegte. "Egal ob Tag oder Nacht es gibt viel dort draußen von dem die meisten Leute keine Ahnung haben."
Der Junge sah über den nächtlichen Garten, dann wieder zu seinem Begleiter. Leif konnte Minze und Löwenzahn riechen. „Ja, und sie wollen es auch nicht verstehen.“ Der Blick des Knaben wurde skeptisch. „Seid ihr ein Freund von Tante Alida? Ich habe euch noch nie hier gesehen…“
"Nein das bin ich nicht. Deine Tante und ich arbeiten zwar gelegentlich zusammen aber wir haben nicht viele Gemeinsamkeiten." Leif folgte Hendrik. "Außerdem sind mir hier auch ständig viel zu viele Leute, deshalb komme ich nicht her, wenn ich es vermeiden kann. Das sind wohl die Gründe wieso du mich hier noch nie gesehen hast."
Hendrik nickte als würde er begreifen. „Hier sind viele Leute. Aber die meisten gehören zu denen, die nicht verstehen oder verstehen wollen. Und die anderen tun so als würden sie nicht verstehen.“ Er machte eine Pause. Sie waren an der Tür des Gästehauses angekommen und der Junge öffnete und hielt Leif die Tür auf.
"Danke Hendrik." Leif drehte sich um und wollte schon eintreten, bevor er sich noch einmal zu Hendrik umdrehte. "Ich verstehe das es manchmal verwirrend sein kann, aber merk dir eine Sache. Es ist egal, was die anderen denken oder ob sie so tun als würden sie nichts verstehen. Sie spielen am Ende keine Rolle. Wichtig ist nur, dass du selber weißt was du willst und dich von all den anderen nicht verunsichern lässt." Wahrscheinlich würde der Junge nicht genau verstehen was er meinte, aber wenn er das Thema wie ein Erwachsener ansprach, dann hatte er auch entsprechende Antworten verdient.
Der Junge senkte den Blick. Seine Stimme war leise. „Ich möchte, dass sie mich mitnehmen… Lucien wenn er nachts auf Wache ist… oder Alida, wenn sie zu den Schiffen geht, ich will acuh mal nachts mit Frederik in die Blutige Jungfrau. Aber sie lassen mich nicht. Marlene meint, ich soll lieber auf Florine aufpassen aber das ist so langweilig… Florine ist ihre Tochter“, fügte er erklärend hinzu. Dann stieg er eine Treppe hinauf, blieb an deren Ende stehen und deutete nach rechts. „Dort ist Onkel Balduin mit der Frau… Und Karl-Christians …Pflegemutter? Georg ist unterwegs und holt Onkel Balduin alles aus dem Hospital, was er braucht. Ich hab sie reden gehört, dass es nicht gut wär, wenn man die Frau weiter durch die Gegend trägt weil sie zu erschöpft ist.“ Wieder senkte er den Blick und wurde rot. Leif war klar, dass er unerlaubt gelauscht haben musste.
Im Grunde mochte Leif Kinder und deshalb fiel es ihm auch nie schwer ein paar nette Worte zu sagen. “Das ist schon in Ordnung, Hendrik. Wenn einem niemand etwas sagt, dann muss man sich seine Informationen eben anders beschaffen. Ich habe früher auch gelauscht und selbst als Erwachsener ist es manchmal noch eine ganz nützliche Fertigkeit.” Er lächelte dem Jungen zu. “Aber nimm es den Erwachsenen nicht ganz so übel, die meisten vergessen nur, dass Kinder sehr viel mehr mitbekommen und auch sehr viel mehr wissen, als sie sich vorstellen können. Weißt du leider vergessen sie manchmal, dass sie auch mal Kinder waren.” Leif hielt die Tür weiter auf. “Wenn du willst, dann nehme ich dich heute mit. Wenn Berta etwas dagegen haben sollte, dann kannst du sie zu mir schicken. Aber sei gewarnt du wirst vielleicht eine ganze Menge Blut sehen und jemanden der Schmerzen hat. Glaubst du, du kannst das? Und glaubst du, du kannst einfach nur beobachten? ” Leif wartete auf die Reaktion des Jungen und war schon gespannt, was ihn erwartete aber er würde mit Thyra und dem Rest ganz sicher nicht hier bei Alida bleiben um sie zu behandeln.
Der Junge starrte ihn mit verständnislosem Blick an, dann breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Es schien fast, als habe ihm jemand seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt.
Er nickte eifrig, zögerte dann jedoch und antworte überlegend. „Ich denke, dass ich das kann. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich mit euch kommen könnte.“
Die Tür, die Leif aufhielt, öffnete sich zu einem weiteren schalen Gang.
Er spürte bereits die Anwesenheit seiner Vertrauten bevor er Stimmen hörte. In dem Raum zur Rechten erblickte er schließlich Thyra, die auf einem Bett lag und Balduin, der eine ihrer Wunden mit Fäden aus Katzendarm vernähte. Brunhild wusch ihr eine klaffende Wunde mit Branntwein aus. Leif wusste sofort, dass man dem Mädchen unglaubliche Mengen an Mohnsaft und Alkohol eingeflößt hatte damit sie die Prozeduren über sich ergehen lassen konnte.
"Dann komm, Hendrik. Wir haben keine Zeit zu verlieren." Leif ging zu der Kammer in der sich Thyra und der Rest aufhielt und beobachtete das Geschehen. Er machte sich kurz bemerkbar und fragte dann die Anwesenden: "Wie geht es ihr?" Leif hatte sich zwar schon einen Überblick verschafft, aber Balduin und Brunhild waren länger hier gewesen. Nachdem er die Antwort erhalten hatte wandte er sich an Hendrik um ihm zu erklären was gerade passierte. "Brunhild dort wäscht die Wunde gerade mit starkem Alkohol aus. Das sorgt dafür, dass sich die Wunde nicht entzündet und sie dadurch wieder krank wird. Balduin hingegen versucht die Wunde wieder so nah wie möglich zusammenbringen. Man nennt diese Form der Behandlung 'Nähen', wie bei Kleidung und sie unterstützt die Heilung von Schnitten in der Haut erheblich." Es war nie gut Kindern sich selbst zu überlassen, insbesondere in solchen möglicherweise schockierenden Situationen, deshalb nahm Leif sich die Zeit Hendrik zu erklären was er sah.
Hendrik stand hinter Leif und sah sich das, was gerade vorging, ruhig an. Ein Blick in seine Richtung ließ den Heiler sofort erkennen, dass der Junge nicht geschockt von dem Anblick war. Brunhild erhob sich mit unvorstellbar erleichterter Miene, ließ den Lappen auf einen Nachtkasten fallen und trat auf ihn zu. Sie drückte seinen Unterarm. Leif wusste, dass sie sich in der Öffentlichkeit nicht zu mehr Emotion hinreißen ließ. Das war nicht ihre Art. Ihre Augen verrieten ihm auch so genug. Balduin hingegen sah zu Hendrik und seine Augen verengten sich. „Hendrik? Das hier ist definitiv kein Ort für Kinder. Geh lieber zu Berta in die Küche und mach dich da nützlich!“
Der Knabe trat einen Schritt nach hinten und biss fest die Lippen aufeinander. Ihm lag eine Erwiderung auf der Zunge, doch er hielt sich zurück und hob den Blick zu Leif.
“Balduin.” Leif’s Stimme war ruhig. “Im Idealfall sollte niemand mit solchen Dingen konfrontiert werden, aber da spielt die Realität oft nicht mit. Man kann nie zu früh mit dem Lernen beginnen. Ich kümmere mich um ihn, sag du mir lieber wie es Thyra geht.” Ich vermute sie hat eine ganze Menge Blut verloren.
Balduin holte tief Luft und atmete langsam aus. Er war lang genug in den Diensten eines Kainiten gewesen um zu wissen, wann man besser nicht widersprach. Er sprach routiniert und das Ausmaß dessen was er sagte ließ sich aus dem Klang seiner Stimme nicht entnehmen. „Ein ordentlicher Blutverlust, zwei gebrochene Rippen, einige Schnitt- und Prellwunden… und wenn sie ausgesprochenes Pech hat, was ich vermute, dann liegt zusätzlich eine Hirnblutung vor.“ Er nickte in Leifs Richtung und einen Augenblick später folgte ein ärgerlicher Blick auf Hendrik bevor er weiter sprach. „Wir haben ihr zwar einiges an Narkotika verabreicht, aber sie müsste sich dennoch bei den Schmerzen, die sie verspürt, rühren. Das tut sie aber nicht…“
"Ich verstehe." Leif ging in Richtung von Thyra und schaute sie an. Hendrik gab er noch schnell ein Zeichen im Hintergrund zu bleiben. "Wenn sie wirklich eine Blutung im Kopf, hat können wir leider nicht viel machen." Leif begann Thyra zu untersuchen.
Der Heiler tastete Thyra ab, klopfte ihre Muskeln ab um die entsprechenden Reflexe auszulösen, öffnete ihre Augen und ließ Licht in die Pupillen fallen um deren Reaktion zu testen. Aber was auch immer es tat, er konnte keine Hinweise gewinnen, die ihn irgendwie weiter brachten. Offensichtlich reagierte sie in so ausgeprägtem Maße auf den Mohnsaft und den Alkohol, dass sie auf kaum etwas reagierte.
Leif spürte, dass er so nicht viel herausfinden würde und überlegte kurz. Er wusste was er normalerweise als nächstes machen würde, aber er wusste das Thyra mehr als nur ungehalten reagieren würde, wenn sie erfahren würde, dass er ungefragt seine Kräfte - seien sie noch so positiv - an ihr angewendet hätte. Schließlich traf er eine Entscheidung, Er würde sie weiter mit Valeren untersuchen und danach konnte man immer noch weitersehen, denn schließlich würde sie davon auch nie etwas erfahren und es könnte ihr das Leben retten.
Leif berührte sie vorsichtig an der Schläfe und spürte die Kraft die von seinen Fingern auf sie überging, in ihren Geist eindrang, und Energie aussandte. Er bemerkte eine Bewegung am Rand seines Blickfeldes und wusste, dass Hendrik nähergetreten war. Das Echo, das auf seine Berührung folgte war schwach, aber er konnte es deutlich genug auffangen um zu verstehen, wie ihre Verletzungen waren. Alles, was Balduin beschrieben hatte, traf zu und auch die Hirnblutung ließ sich nicht verleugnen. Bei einem der heftigen Schläge, die Jonarta dem Mädchen zugefügt hatte, war ein winziges Gefäß gerissen, das weiter blutete. Mit jeder Stunde nahm das Blut, das nicht abfließen konnte mehr Raum in ihrem Schädel ein und verdrängte das Gehirn, presste es in Richtung der Öffnung, die die lateinischen Anatomiebücher als Foramen magnum beschrieben. Über kurz oder lang würde das Gehirn schlicht und ergreifend zerquetscht sein. Es gab nur eine Möglichkeit Abhilfe zu schaffen: man musste das Blut entweichen lassen